Marc Reichert, zum zweiten Mal nach 2014 startet die Schweiz als Vize-Weltmeister in eine WM. Damals gab es einen Absturz. Ist das 2019 auch wieder möglich?
Reichert : Die Viertelfinals zu verpassen – das kann immer passieren. Aber mit Blick auf das Kader und den Hunger in der Equipe, mit all den NHL-Spielern, die dabei sein wollen, da sollte ein Absturz wie 2014 ausgeschlossen sein.
Wo sehen Sie die grössten Stärken der Schweizer Equipe?
Die Schweiz hat sehr viele Skills, viel Speed im Team. Die Kreativität ist extrem hoch. Auch ein starkes Goalietrio ist mit dabei. Ich denke, die Schweiz hat einen guten Mix zwischen jungen, neuen Spielern und Routiniers.
Was etwa fehlt im Team sind die physisch starken Spieler, die «Rammböcke». Gerade ein Nino Niederreiter, der diese Rolle immer hervorragend spielt, könnte schmerzlich vermisst werden. Könnte da der wunde Punkt im Schweizer Team liegen?
Man wird im Turnier sehen, ob die fehlende Wasserverdrängung durch Skills und Speed wettgemacht werden kann. Einen Nino Niederreiter oder auch einen Timo Meier kann man nicht 1:1 ersetzen. Aber ich denke, dass Patrick Fischer geschaut hat, dass der Mix für ihn stimmt. Mit den Spielern, die ihm zur Verfügung stehen. Denn es macht keinen Sinn, Wasserverdrängung mitzunehmen, nur damit man sie hat. Der Mix macht es aus!
In den Playoffs hat Berns Simon Moser die Rolle vor dem gegnerischen Tor sehr gut gespielt. Kann er das auch an der WM tun, gerade auch im Powerplay?
Definitiv. Simu Moser ist extrem robust und muss sich vor keinem Verteidiger verstecken. Er verfügt über eine gute Hand-Augen-Koordination und ist auch bei Abprallern stets bereit. Er dürfte in Abwesenheit von Niederreiter und Meier eine wichtige Rolle spielen.
Der in der NHL engagierte Niederreiter würde wohl erst für die WM-Viertelfinals frei werden. Würde es Sinn machen, ihn dann nachzunominieren?
In diesem Fall muss man auch schauen, wann ein Spieler dann wirklich vor Ort sein kann, wie fit er ist, wie er das Teamgefüge beeinflusst. Aber im Falle von Niederreiter würde die Integration völlig problemlos verlaufen.
Das Startprogramm ist eher mühsam. Man kann in den ersten 4 Spielen nur verlieren …
Man muss mit der richtigen Einstellung in diese Spiele gehen und darf nicht daran denken, was man verlieren könnte. Man muss es als Challenge sehen. Die Schweizer kennen ihre Qualitäten, sie wissen, dass sie diese Gegner schlagen können. Und Angst brauchen sie nicht zu haben.
Patrick Fischer hat gesagt, die Schweiz passe sich dem Gegner nicht mehr an, ziehe auch gegen die grossen Nationen ihr Ding durch. Kann man sich das leisten?
Diese Taktik hat sich in den letzten Jahren voll bewährt. Man ist forsch in diese Spiele gegangen, hat mitgespielt und dem Gegner zwischendurch sogar das Spiel aufgezwungen. Man wird die Gegner sicher analysieren und Feinjustierungen vornehmen. Aber man wird sicherlich nicht von Spiel zu Spiel alles auf den Kopf stellen. Die Schweiz verfügt über die nötigen Qualitäten, es ist der richtige Ansatz.
Das Schwergewicht in der Schweizer Gruppe ist Russland mit einer Auswahl von Superstars. In 4 Testspielen gegen schwächere russische Teams hat die Schweiz 4 Mal verloren. Wie weit ist die Schweiz von einem solchen Gegner weg?
Auf Basis der Testspiele lässt sich so etwas nicht beurteilen. Die Russen kommen mit einem Staraufgebot, aber es muss sich dann jeweils zeigen, mit wie viel Herz diese Spieler dabei sind. Können sie ihre Egos parkieren und sich voll in den Dienst der Mannschaft stellen? Aber auch die Schweiz ist mit ihren besten Spielern dabei. Es kommt dann auch auf die Tagesform drauf an. Aber warum nicht auch den Russen ein Bein stellen?
Nach Silber 2018 kann es nur noch eine Steigerung geben. Wann ist WM-Gold fällig?
Hoffentlich so schnell wie möglich (lacht). Man muss grosse Ziele haben und diese Goldmedaille muss ein Ziel sein. Aber eine Mannschaft soll sich im Laufe eines Turniers entwickeln, nicht zu weit voraus schauen. Das ist ja auch in den Playoffs so. Die Final-Niederlage von 2018 beschäftigt die Spieler immer noch. Das hat eine Narbe hinterlassen, auch wenn es eigentlich ein gutes Resultat war. Man war nicht zufrieden. Und das spricht für die aktuelle Generation.
Das Gespräch führte Christian Aellen
Sendebezug: SRF zwei, sportpanorama, 05.05.2019, 18:30 Uhr