Ein Klub ohne Zuhause: Seit Russlands Annexion der Krim 2014 kann Schachtar seine Heimspiele nicht mehr im Heimstadion in Donezk austragen. Die Reise ging von Lwiw nach Charkiw, Kiew über Warschau nach Hamburg. Am Mittwoch «empfängt» Schachtar im Rahmen der Champions League die Young Boys in Gelsenkirchen. SRF hat mit Klubchef Sergei Palkin gesprochen: Was bedeutet es, stets den Krieg im Hinterkopf zu haben? Zerstört die Fifa gerade den ukrainischen Fussball? Und welche Erinnerungen hat er an die Pleite gegen YB vor sieben Jahren?
SRF Sport: Schachtar hat seit rund 10 Jahren kein echtes Heimspiel mehr bestritten. Was waren die grössten Herausforderungen auf dieser Odyssee?
Sergei Palkin: Es waren sehr schwierige Jahre. 2014 mussten wir nach Lwiw ausweichen, dann nach Kiew. Die zweitgrösste Challenge war, als Russland 2022 einmarschierte – ein Albtraum. Wir fragten uns nicht mehr, wie oder wo wir Fussball spielen sollten. Sondern wie wir überleben können. Wir fragten uns: Wie retten wir die Menschen im Klub? Wie bringen wir ausländische Spieler und Staff-Mitglieder aus dem Land? Eine sehr schwierige Aufgabe, die grösste Challenge in der Geschichte unseres Klubs, aber auch unseres Landes.
Danach haben wir versucht, unserem Volk zu helfen. Wir eröffneten rund um Lwiw Unterstände für Flüchtende aus dem Süden der Ukraine. Viele kamen ohne etwas. Wir boten ihnen Essen und Medizin an, mentale Unterstützung. Dann musste es auf dem Fussballfeld weitergehen. Wir wussten: Wenn wir die Meisterschaft nicht fortsetzen, könnte der ukrainische Fussball sterben. Weiterzumachen war die richtige Entscheidung.
Es war ein sehr starkes Zeichen von YB.
Wie wichtig war und ist es, dass Sie allen Widerständen zum Trotz weitergekämpft und -gespielt haben?
Für uns ist es das Wichtigste, der ganzen Welt das Signal zu schicken, dass der ukrainische Fussball lebt. Zugleich wollten wir ganz Europa und der Welt zeigen, was in der Ukraine passiert. Bevor wir unsere Meisterschaft wieder aufgenommen haben, absolvierten wir viele Freundschaftsspiele in ganz Europa. Es sind zwei Paar Schuhe, ob man in der Zeitung liest, was passiert, oder es von Menschen aus der Ukraine persönlich erfährt. Es war sehr wichtig, Unterstützung von der EU und der gesamten demokratischen Welt zu erhalten.
Wir hatten die Rolle, allen zu zeigen, wie sie unser Land unterstützen können. Und das haben wir ziemlich gut gemacht, wir haben eine starke Botschaft verbreitet. Wichtig: Wenn wir über Unterstützung reden, ist damit nicht nur finanzielle Hilfe oder Waffen gemeint. Auch nur schon Worte helfen uns. Nach dem Beginn des Kriegs wurde bei Spielen der englischen Premier League auf den Anzeigetafeln «We stand with Ukraine» eingeblendet. Für uns war das zentral: dass uns Menschen aus Demokratien ihren Support zusicherten. Insofern haben wir unser Ziel erreicht.
Sie gingen im Herbst auf die Fifa los. Grund waren die neuen Transferregeln nach Kriegsbeginn. Hat sich der Weltverband dort nur um ausländische Spieler und Funktionäre gekümmert?
Die Fifa hat den «Anhang 7» eingeführt. Es geht nicht darum, was dieser festlegt, sondern wie dieser eingeführt wurde. Wir versuchten, die Fifa zu erreichen, wollten uns mit ihnen an einen Tisch setzen. Doch die Fifa hat nie reagiert. Niemand fragte uns nach unserer Sicht. Natürlich müssen wir ausländische Spieler und Trainer unterstützen. Doch das gilt auch für Ukrainer und ukrainische Klubs. Bei Schachtar hatten wir schon im Vorfeld mit allen ausländischen Akteuren die weiteren Schritte festgelegt, individuelle Lösungen gefunden. Nicht nur mit den Spielern, auch mit deren Familien und Agenten.
Dann kam der Fifa-«Anhang 7». Das hat alles, was wir aufgebaut haben, komplett zerstört. Die Spieleragenten haben realisiert: Sie können schnell reich werden. Ihre Spieler sind frei und können überall hin wechseln. Die Fifa hat damit nur die Agenten unterstützt, nicht die Spieler. Die Fifa sagt immer: «Wir sind eine Fussballfamilie.» Die ukrainischen Klubs waren zu diesem Zeitpunkt kein Teil dieser Familie. Als «Anhang 7» eingeführt wurde, enthielt er eine Menge Fehler.
Welche Erfahrungen machte Schachtar mit dem «Anhang 7»?
Ich kann dazu zwei Beispiele nennen. Bei Kriegsbeginn kam Real Madrid auf uns zu und sagte: Wir wissen, dass wir Vinicius Tobias gratis haben könnten. Wir wollen aber mit euch ein Leihgeschäft machen, Leihgebühr bezahlen und wenn er zu uns passt, kaufen wir ihn euch ab. Tottenham hingegen holte Manor Solomon kostenlos. Ein Jahr später verkauften sie ihn an Fulham, wir sahen keinen Cent. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Verschiedene Klubs verhalten sich unterschiedlich.
Für mich ist es ein grosser Irrtum, wenn Leute sagen, Politik und Sport sollten unabhängig voneinander funktionieren.
Die Young Boys untersagten kürzlich Meschack Elia den Wechsel zu einem russischen Klub – aus politischen Gründen. Schätzen Sie diese Form der Solidarität?
Das weiss ich definitiv zu schätzen. Wir befinden uns alle zusammen im Kampf mit Russland, in allen Aspekten des Lebens. Nur so können wir diesen Krieg gewinnen. Es war ein sehr starkes Zeichen von YB.
Der FC Sion hingegen verpflichtete im Herbst den Russen Anton Mirantschuk. Klubpräsident Christian Constantin meinte, man dürfe Politik und Sport nicht vermischen ...
Für mich ist es nicht richtig oder angebracht, wenn Klubs russische Spieler verpflichten. Ich mag das nicht. Die Sanktionen gegen Russland sollten in allen Belangen gelten. Für mich ist es ein grosser Irrtum, wenn Leute sagen, Politik und Sport sollten unabhängig voneinander funktionieren. Es ist ein Teil der Beziehungen zu Russland. Nach der Krim-Annexion wollte die ganze Welt gute Beziehungen zu Russland wahren. Und was war Russlands nächster Schritt? Die vollständige Invasion der Ukraine. Wenn wir jetzt allen russischen Sportlern die Teilnahme gestatten, ist das ein weiterer Schritt, dass wir in der Zukunft alle gegen Russland verlieren können. Wir müssen in allen Bereichen des Lebens stark bleiben.
Blicken wir auf das Duell mit YB: Schon 2017 stand Schachtar den Bernern in der 3. CL-Quali-Runde gegenüber und scheiterte im Penaltyschiessen. Welche Erinnerungen sind Ihnen geblieben?
Wir hatten gerade erst Paulo Fonseca, der jetzt die AC Milan coacht, als Trainer verpflichtet. Er versuchte das System vom bekannten 4-3-2-1 in ein 4-4-2 umzumodeln. Doch wir hatten nicht die passenden Spieler dafür. Das war ein Fehler, deshalb verloren wir. Wir kehrten dann zum alten System zurück und wurden wieder stärker. Das ist mir im Gedächtnis geblieben: diese Systemumstellung, die bei uns Probleme verursachte.
Was für ein Spiel erwarten Sie am Mittwoch?
Wir müssen gewinnen, sonst geht es für uns europäisch nicht weiter. Auch ein Unentschieden reicht nicht. Von dem sportlichen Standpunkt her erwarte ich ein sehr interessantes und hartes Spiel.
Das Gespräch führte Pascal Roganti, Mitarbeit Dominik Steinmann.