Es war vom Start der Frauen-WM an ein Missverhältnis: Von den 32 Teams hatten 20 einen Mann als Cheftrainer. Es heisst, Frauen tun sich schwerer, sich für einen solchen Posten zu bewerben oder Verbände haben Mühe, eine Frau dafür zu verpflichten – je nachdem, bei wem man nachfragt.
Was für die Männer und gegen die Frauen auf der Trainerbank spricht, bleibt geheimnisvoll. Die Erfolgsbilanz ist es auf jeden Fall nicht: Von den letzten 12 grossen Turnieren wurden 11 von Teams gewonnen, die von einer Trainerin betreut wurden. Bei den letzten beiden Europameisterinnen hatte Sarina Wiegman das Sagen, 2017 bei den Niederlanden und 2022 bei England.
Wiegman ist von den 6 im WM-Turnier verbliebenen Trainern nicht nur die einzige Frau, sondern auch jene mit dem bekanntesten Namen und dem eindrücklichsten Palmarès. Dieses beinhaltet neben den beiden EM-Titeln niederländische Meisterschaften, Cupsiege und persönliche Auszeichnungen wie die dreimalige Wahl zur Fifa-Trainerin des Jahres.
Favoritinnen gegen Kolumbien
Heute ist sie eine der einflussreichsten Personen im Frauenfussball. Ihr Wort hat Gewicht. Ihre Erfolge sprechen Bände. Darauf angesprochen, dass sie die einzige Trainerin im WM-Viertelfinal ist, reagiert Wiegman unaufgeregt: «Ich hoffe, dass es in Zukunft mehr Trainerinnen im Fussball gibt, dass das Gleichgewicht besser wird.»
Man arbeite daran, zumindest in England. Ihre Wahlheimat zählt zunächst in erster Linie auf sie, um den 1. WM-Titel seit dem Triumph der Männer 1966 zu gewinnen. Die Vorzeichen stehen nach dem Out der USA gut, die «Lionesses» gelten seither als Favoritinnen.
Den Grundstein zur internationalen Karriere hatte Wiegman 2017 gelegt, als sie nur 6 Monate nach Amtsantritt die Niederlande zum EM-Titel führte. «Wir haben spielerisch das eine oder andere verändert», erinnert sie sich. «Aber vor allem wurde die Mentalität verbessert, die Art und Weise, wie sich die Spielerinnen selber betrachten.»
Einst als Junge ausgegeben, um Fussball zu spielen
Wiegman ist geprägt von der amerikanischen Trainer-Philosophie, in der es nicht nur darum geht, Spielerinnen sportlich weiterzubringen, sondern sie auch zu umsorgen und charakterlich zu festigen. An der Universität von North Carolina spielte sie 1989 an der Seite von späteren US-Grössen wie Mia Hamm, Kristine Lilly und Carla Overbeck. «Es hat mich verändert und geprägt», sagt sie über dieses Jahr in Übersee.
Wiegman erkannte in den USA zum 1. Mal, wie Frauenfussball sein kann – professionell und leidenschaftlich. Ein starker Kontrast zu dem, was sie in den Niederlanden erlebte. Dort hatte sie als Sechsjährige in der Umgebung von Den Haag mit dem Fussball begonnen, indem sie sich als Junge ausgab. Mit kurzen Haaren und ihrem Zwillingsbruder im gleichen Team machte sie die ersten Dribblings. «Ab und zu wurde ich als Mädchen entlarvt. Die Reaktionen waren unterschiedlich», erinnert sie sich.
In gut 35 Jahren im Fussballgeschäft, darunter eine Saison als Assistentin bei den Männern von Sparta Rotterdam, hat Wiegman die Entwicklung ihrer Sportart genaustens beobachten können. Nicht alles geht so rasch voran, wie sie es gern hätte. Aus dem Tritt gerät sie deswegen nicht.