Er ist kein Anführer. Kein Patriot. Zu alt, zu brav, zu langsam. Der «Unvollendete», er wird nie grösser sein als Diego Armando Maradona, der sich Weltmeister nennen durfte. Man wurde in den letzten Jahren nicht des Gefühls ledig, dass all die Bewunderung, die dem Jahrhundert-Fussballer Lionel Messi zugeflogen war, plötzlich der Enttäuschung über sein Irdischsein weichen musste. Die Unkenrufe verloren an Kraft, als der Captain seine Argentinier 2021 zum Triumph an der Copa America führte (was Maradona vorenthalten geblieben war). Mit den meisten Toren und den meisten Assists des Turniers.
Die Weltmeisterschaft in Katar – sie wird neben all den politischen Nebengeräuschen vor allem jenes Turnier sein, bei welchem Messi zum «Vollendeten» wurde. Bei seiner 5. und letzten WM wurde der 35-Jährige zum lange ersehnten Anführer. Auch die weiteren eingangs erwähnten Kritikpunkte sind haltlos, von Momenten, die bereits ikonisch sind, entkräftet: Etwa vom giftigen «Que miras, bobo?» («Was schaust du so, Trottel?») in Richtung Wout Weghorst, vielmehr aber von Szenen auf dem Rasen. Verteidiger mit dem Stempel «Weltklasse» auf dem Rücken mussten sich fühlen, als hätte sich an ihren Sohlen kurzzeitig Beton gebildet. Zur Illustration dienen die Leiden des jungen Josko Gvardiol vor Argentiniens 3:0 im Halbfinal.
Der Autor David Foster Wallace schrieb einst eine vielbeachtete Huldigung über das Tennisspiel Roger Federers. Es ist zu wünschen, dass es sich ein ähnlich begabter Chronist zur Aufgabe macht, das unnachahmliche Wirken Messis zwischen zwei Buchdeckel zu bannen. Es ist durchaus schwer, Worte dafür zu finden, wenn «der Floh» auf engstem Raum drei Gegenspielern kein Anrecht auf Ballbesitz gewährt, er um 15 Jahre jüngere Kontrahenten uralt aussehen lässt. Mit tiefem Körperschwerpunkt, häufig nicht übermässig schnell, aber extrem wendig, während das Leder fester an seinen Füssen zu kleben scheint als ein Klimademonstrant am Asphalt.
Was er macht, ist Kunst, und dabei nicht brotlos. 7 Tore und 3 Assists steuerte der PSG-Legionär bei. Es ist ein bedauerlicher Gedanke für den neutralen Fussball-Fan, Messi nie wieder auf weltweiter Bühne bewundern zu können. In späteren WM-Rückblicken wird man immerhin einen Meister am Höhepunkt seines Schaffens im Nationalteam betrachten, mit maximalem Erfolg – was seinem ewigen Widersacher Cristiano Ronaldo zumindest vorerst vorenthalten bleibt.
Dabei hatte zunächst in Katar wenig bis gar nichts auf den 3. WM-Triumph der Südamerikaner nach 1978 und 1986 hingedeutet. Eine 1:2-Blamage gegen den krassen Aussenseiter Saudi-Arabien, mit einer zweiten Halbzeit, die dem Teammanager die Recherche nach Rückflugtickets zumindest nahelegte. Rückblickend brauchte es dieses Debakel, betonte Messi nach dem Halbfinal: «Es hat uns geholfen, stärker zu werden und als Mannschaft zu wachsen. Jedes Spiel war seitdem ein Final – wir haben alle gewonnen.» So blieb es bis zum Schluss.
Natürlich brauchte es zum Titel der «Gauchos» mehr als nur einen Messi. Eine stabile Defensive um Keeper Emiliano Martinez etwa. Ein fleissiges Mittelfeld, das die mangelnden Meter Messis kompensiert, ein Vollstrecker in Person von Julian Alvarez, der sich 10 Jahre zuvor noch als Fan für Fotos mit dem «Messias» in die Schlange stellte. Und doch: Das Gesicht des Triumphs, der Kopf hinter dem Coup(e), der Dirigent des Orchesters – es ist Messi. Messi, der Vollendete.