Vier Tore in der Gruppenphase erzielt, keines im Achtelfinal, eines im Viertelfinal – aber eben auch erst einen Gegentreffer kassiert: Die Zahlen untermalen, weshalb Überraschungs-WM-Halbfinalist Marokko als Abwehrmaschinerie gilt. Weshalb die Matchwinner zuletzt – Doppeltorschütze Youssef En-Nesyri und Superstar Haki Ziyech ausgenommen – defensive Stabilisatoren sind. Etwa Rechtsverteidiger Achraf Hakimi oder Goalie Bono.
Sie sind fraglos bissig, doch die «Löwen vom Atlas» können auch anders. Gegen Spanien sündigte Walid Cheddira mehrfach, weshalb sehenswerte Kombinationen der Marokkaner letztlich zur Makulatur verkamen. Und dann ist da noch Sofiane Boufal, mehr Gazelle als Löwe. Gegen Spanien liess er den 2 Jahre jüngeren Marcos Llorente aussehen, als wäre dieser sein Grossvater (siehe Video oben).
Es erinnerte an den grossen Zlatan Ibrahimovic, der sich in seiner Biografie an ein Dribbling 2001 gegen den damaligen Liverpool-Schweizer Stéphane Henchoz erinnert: «Erst ging ich nach links, das machte der Verteidiger auch. Dann ging ich nach rechts, das machte er auch. Dann ging ich wieder nach links, und er ging und kaufte sich einen Hotdog.» Eine Runde später dann tanzte Boufal mit Portugals Bruno Fernandes, frech an der eigenen Eckfahne.
Die mittlerweile bekannteste Tanzeinlage – Internet sei Dank – zeigte Boufal dann nach dem Spiel gegen die Lusitaner. Er feierte den historischen Halbfinal-Einzug mit seiner Mutter. Über sie, die ihn alleine grossgezogen hatte, sagte der 29-Jährige einst: «Sie hat ihr Leben für mich geopfert. Ich musste für sie Profi werden.» Spätestens 2016 war Boufal der ganz grosse Wurf endgültig gelungen. Für 18 Millionen wechselte er von Lille nach Southampton.
Der grosse Durchbruch in der Premier League blieb jedoch aus. Mittlerweile ist er zurück, wo alles begann: bei seinem Jugendklub Angers. Nicht nur deshalb ist der Halbfinal gegen Frankreich eine emotionale Angelegenheit für Boufal. Er ist wie sein Nationalteam-Kollege Romain Saïss, Trainer Walid Regragui und einige andere im Team und Staff in Frankreich geboren. Eine ganz besondere Affiche ist es ohnehin für das ganze Land des ersten afrikanischen (und arabischen) WM-Halbfinalisten: Über eine Million Menschen der marokkanischen Diaspora in Europa leben in französischen Städten.
Mit der Kraft der Fans
Etliche Fans aus der Region am Persischen Golf unterstützen ihre «Löwen» in Katar. Frankreichs Equipe darf sich auf ein Pfeifkonzert einstellen. Die Ziele sind hoch, Regragui wirkt dem nicht entgegen: «Warum sollten wir nicht davon träumen, eine WM zu gewinnen? Es kostet nichts, Träume zu haben», sagte er nach dem Viertelfinal-Triumph. Echte Löwen brüllen schliesslich laut.
Frankreich jedenfalls ist vor den emotional angestachelten sowie spielerisch überzeugenden Marokkanern gewarnt. Und besonders vor «Tänzer» Boufal. Denn manchmal sind Gazellen genauso gefährlich wie Löwen.