Scott Sutter wechselte in seiner Jugend aus England nach Zürich. Obwohl er sich heute mehr als Schweizer bezeichnet, verfolgt er die «Three Lions» an der EURO genau. Im Interview spricht der 35-Jährige über die Titelchancen Englands, und was ein Titel im Mutterland des Fussballs auslösen könnten.
SRF Sport: Wenn es nicht in diesem Jahr zu einem grossen Titel für England reicht, wann dann? Scott Sutter, sind Sie anderer Meinung?
Scott Sutter: Das hat man schon an der letzten WM gedacht, als man im Halbfinal gegen Kroatien verloren hat – und jetzt ist es wieder so weit. In der Gruppenphase hat England nicht so überzeugend gespielt, aber in den letzten beiden Spielen gegen Deutschland und die Ukraine hat es wieder besser ausgesehen. Wenn man sich anschaut, welche Gegner sonst noch gedroht hätten, muss man sagen: Es gibt kaum einen einfacheren Weg in den Final als jetzt.
Was zeichnet England aus Ihrer Sicht aktuell besonders aus?
England ist relativ flexibel, was Aufstellung und Taktik anbelangt. Die meisten Spiele hat Gareth Southgate mit der Viererkette spielen lassen, einmal hat er auf eine Dreierkette gewechselt; er hat die Spieler, um diese Wechsel erfolgreich durchzuziehen. Das Kader ist recht breit und gut besetzt. Vor allem in der Offensive: Es spielt keine Rolle, ob Mason Mount, Phil Foden, Jadon Sancho, Jack Grealish oder Raheem Sterling spielen. Southgate hat 5, 6 Jungs, die er einfach reinwerfen kann und bei denen er weiss, dass das Niveau nicht sinkt. Mit Fortschreiten des Turniers kommt so langsam die Müdigkeit in die Beine – und die Köpfe. Hier hat England mit dem breiten Kader im Vergleich zu kleineren Ländern wie Dänemark sicher einen Vorteil.
Man spürt, wie Sie von den englischen Spielern schwärmen – haben Sie einen Lieblingsspieler?
Ich persönlich bin ein Fan von Jack Grealish, ich schaue ihm sehr gerne zu. Was er bei Aston Villa in der Premier League zeigt, beeindruckt mich. An der EURO hat Grealish leider noch nicht so viel gespielt, aber wenn er zum Zug gekommen ist, hat er seine Sache gut gemacht.
Beeindruckend ist bei England derzeit aber auch die Defensive, die noch kein Tor zugelassen hat. Hätten Sie dem Team dies zugetraut?
Nein, das hätte wohl niemand gedacht. Ich als ehemaliger Verteidiger sehe schon, dass sie auch defensiv besonders gut stehen. Es ist kein Zufall, dass England im Halbfinal steht; denn wenn du die EM gewinnen willst, musst du eine gute Defensive haben.
Sehen Sie gegen Dänemark noch Stolpersteine?
Die Konzentration könnte ein bisschen weniger hoch sein, weil die Spieler denken, dass es «nur» gegen Dänemark geht. Und man darf auch den Druck auf die Spieler nicht unterschätzen, der ist immer sehr hoch, wenn man in der englischen Nationalmannschaft spielt. Wenn man so nah dran ist und gegen eine kleinere Nation spielt, kann man fast nur verlieren – wie es England in der Vergangenheit gegen Kroatien oder Island passiert ist. Aber wenn England so weiterspielt wie bislang, mit Konzentration und Disziplin, steht dem Final-Einzug nichts im Weg.
Sie sprechen den Druck an. Kann man den auch in positive Energie umwandeln?
Ich glaube, dass die Engländer mit diesem Druck umgehen können. Sicher, der Druck wird im Wembley vor dem Heimpublikum noch einmal höher sein und es ist eine junge Mannschaft mit Spielern, die noch nie ein grosses Turnier gespielt haben. Aber die Jungs stehen bei Topklubs wie Chelsea, ManUnited, ManCity unter Vertrag. Es ist nicht so, dass sie noch nie Druck erfahren hätten, sondern sie leben damit. Ich bin positiv eingestellt, dass die eigenen Fans im Rücken dem Team noch einmal einen zusätzlichen Schub verleihen können.
Was könnte ein Titel in England auslösen?
Das wäre eine Erlösung für viele Leute. Ein Titelgewinn gäbe einer ganzen Generation von jungen Spielern Hoffnung. Mit dem Titelgewinn wäre der Druck, der sich über die Jahre aufgebaut hat, weg. Denn mit jedem Turnier, bei dem England nicht gewinnt, wird der grösser und grösser. Ich glaube, dass der EM-Titel das Team noch stärker machen würde.
Letzte Frage: Sie spielten bei YB gemeinsam mit dem Dänen Michael Silberbauer. Haben Sie ihm schon geschrieben?
Michael ist noch immer ein sehr guter Freund und ich werde genau verfolgen, was er als neuer Co-Trainer bei Basel macht. Aber geschrieben habe ich ihm vor dem Halbfinal noch nicht. Das werde ich aber sicher noch tun – und ein wenig sticheln (lacht).