Im Schweizer Frauen-Kunstturnen ist ein neues Zeitalter angebrochen. Wendy Bruce-Martin, seit Ende 2021 als Cheftrainerin des Nationalkaders im Amt, dirigiert die Schweizer Delegation ab 11. August bei den European Championships in München erstmals durch internationale Titelkämpfe. David Huser, der Chef olympische Missionen im nationalen Verband, verweist auf folgende Ausgangslage: «Mit der neuen strategischen Ausrichtung gilt es bei den Frauen primär darum, erste Erfahrungen zu sammeln.»
Selbst innerhalb der Schweizer Equipe ist der Spagat riesig. Da stehen etwa Stefanie Siegenthaler, die nach 2014, 2016, 2018 und 2021 ihre 5. Europameisterschaften bestreitet, oder Novizin Chiara Giubellini an ganz unterschiedlichen Polen.
Das fünfköpfige Aufgebot versteht sich als Mix aus jungen und bereits erfahrenen Athletinnen. Mit einem Team-Finalplatz und dem Erfüllen der WM-Qualifikation als oberste Priorität wären die Schweizerinnen «extrem stolz», definiert Siegenthaler die Zielsetzungen.
Neue Rolle + neue Methoden = komplettes Abenteuer
Die 24-jährige Zürcher Oberländerin rückte nach Giulia Steingrubers Karriereende zur Teamleaderin auf. Sie verbindet mit dieser neuen Verantwortung eine grosse Befriedigung, aber auch Respekt. «Ich werde mich noch reinfinden müssen in diese Rolle», sagt Siegenthaler.
Auch die Herangehensweise an die Titelkämpfe erfuhre eine Änderung. So setze die neue Verantwortliche Bruce-Martin im Programm neue Schwerpunkte. Eingespielte Abläufe funktionieren nun anders. Deshalb verweist Siegenthaler auf ein «neues aufregendes Abenteuer, bei dem wir uns zunächst noch finden müssen. Denn die Umstellungen und das Zusammenspiel erfordern Zeit.»
Die Stufenbarren- und Balkenspezialistin nimmt sich vor, ihre allesamt klar jüngeren Teammitglieder bestmöglich zu unterstützen. Siegenthaler will ihre Wegbegleiterinnen vor allem auch abseits des Wettkampfs eng flankieren. Sie sollen mit dem Grossanlass-Feeling vertraut gemacht werden. «Dabei ist das Podiumstraining entscheidend. Dort darf man nämlich nicht in Stress geraten und sollte sich auch nicht schon auspowern», weiss die Routinière.
Vater Giubellini ermahnt zur Ruhe
Giubellini wird zweifellos viel von Siegenthalers Erfahrungen und Ratschlägen profitieren können. Die erst 16-Jährige steht nämlich vor ihrem Debüt an internationalen Elite-Titelkämpfen. «Nervös, aber auch vorfreudig», beschreibt die Aargauerin ihre Gefühlslage vor der Feuertaufe.
Giubellini kann sich aber auch innerhalb ihrer Familie mit reichlich Tipps eindecken. Denn ihr Vater ist Daniel Giubellini. Der heute 52-Jährige verblüffte 1990 in Lausanne als Barren-Europameister. Er war im gleichen Jahr auch Schweizer Sportler des Jahres und gehörte 1992 zur Olympia-Delegation. «Wir reden schon darüber. Vor allem weist er mich dazu an, Ruhe zu bewahren», verrät die Tochter.