Vor dem Start der Tour de France galt Jonas Vingegaard im besten Fall als grösster Herausforderer von Tadej Pogacar. Im besten Fall deshalb, weil gemeinhin damit gerechnet wurde, dass der Slowene auch in diesem Jahr nicht zu bezwingen sein würde. Im besten Fall aber auch deshalb, weil das Jumbo-Visma-Team mit einer Doppelspitze zur 109. Ausgabe der «Grande Boucle» angetreten war.
Es kam anders. Nach Primoz Roglics Sturz in der ersten Woche war schon früh klar, dass die niederländische Equipe auf Vingegaard setzt. Und der Däne bewies spätestens bei seinem eindrücklichen Sieg auf der 11. Etappe, dass er den Erwartungen gerecht werden kann.
In der Heimat des 25-Jährigen überschlugen sich die Zeitungen nach dem zweiten dänischen Tour-Sieg in der Geschichte mit Superlativen:
- Politiken: «Wenn das nicht die grösste dänische sportliche Leistung jemals war, dann kommt sie dem zumindest sehr nahe. Jonas Vingegaard liegt mit seinem Sieg bei der Tour de France auf einem Niveau mit dem EM-Triumph der männlichen Fussball-Nationalmannschaft 1992 und mit Caroline Wozniacki, die bislang einzige Dänin, die ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat [...].»
- B.T.: «Das war die schönste Tour de France aller Zeiten. Die dänischen Jungs haben das geliefert, was niemand für möglich gehalten hatte. Jonas Vingegaards souveräner Sieg und die insgesamt vier dänischen Etappensiege werden niemals vergessen werden. Wir sind Zeuge einer der grössten Leistungen der dänischen Sportgeschichte geworden. Die grösste des Jahrtausends! Jonas Vingegaard hat ganz Dänemark mit Gelbfieber infiziert.»
- Berlingske: «Die Tour de France 2022 wurde zur Tour der Mutigen, Innovativen und Unberechenbaren. Wir sind daran gewöhnt, dass das dreiwöchige Spektakel im Juli Dramatik mit sich bringt. Aber selten, und in Wirklichkeit wohl niemals, haben wir eine so unterhaltsame Tour gesehen, die noch dazu so schwierig auszurechnen war. Tak for Touren (danke für die Tour), Jonas.»
Der Triumph von Vingegaard ist auch immer wieder mit einer Frage verbunden: Ist er sauber? In den vergangenen Jahren musste sich jeder Tour-Sieger diese Frage gefallen lassen. In Dänemark spielt bei dieser Thematik eine historische Komponente eine nicht ganz unwesentliche Rolle. Mit seinem Gesamtsieg trat Bjarne Riis 1996 in Dänemark einen Rad-Boom los, der nach dem späteren, fast schon gleichgültigen Dopinggeständnis des zum Nationalhelden aufgestiegenen Dänen abrupt seinen Glanz verlor.
- Jyllands-Posten: «Der Zweifel fährt leider weiterhin mit. [...] Der jüngste waschechte Doping-Skandal im Radsport ist lange her, aber die Schatten der Vergangenheit sind lang. Dass Vingegaard seinen Sieg gerade auf dem Hautacam in den Pyrenäen gesichert hat, zeigt diese schwere Last: Wie bekannt war es genau dort, dass Bjarne Riis 1996 in Gelb nach Hause fuhr und einen ähnlichen nationalen Rausch auslöste wie heute. Der Kater kam dann, als Riis viele Jahre später seinen Doping-Missbrauch zugab.»
- B.T.: «Er hat die Nation um einen Sport geeint, der erst jetzt wieder in das Leben vieler Menschen hineingelassen wird. Er hat den Doping-Schatten der 1990er Jahre weggewischt. Er hat Dänemark ein unvergessliches Geschenk gemacht.»
Weitere Schlagzeilen aus dem europäischen Blätterwald:
- The Guardian: «Jonas Vingegaard holt sich den Ruhm der Tour de France und nimmt Pogacars Aura der Unbesiegbarkeit.»
- The Sun: «Jonas Vingegaard hat die Tour de France gewonnen – nur fünf Jahre nachdem er als Packer in einer Fischfabrik arbeitete. Der 25-jährige Däne ging morgens in die Fabrik und schwang sich nachmittags auf das Rad, um zu trainieren. Jetzt ist er Tour-Sieger – und hat seinen Namen in die Geschichtsbücher des Radsports eingebrannt.»
- Marca: «Der Däne aus bescheidenen Verhältnissen, der im letzten Jahr Zweiter war, holt sich seinen ersten Triumph nach einer grossartigen Leistung von Jumbo Visma.»
- Le Figaro: «Dänemark war der starke und bewegende rote (und weisse) Faden der Tour de France.»
- Kurier: «Alle für einen: Vingegaard gewinnt die Tour dank Teamgeist»
- Fast ein wenig vergessen geht angesichts der ganzen Lobeshymnen auf Vingegaard der entthronte Titelverteidiger. Auch im Moment seiner wohl grössten Niederlage am Col du Granon bewies Pogacar Grösse, zeigte sich stets als fairer Verlierer – und trug seinen Teil zu einer äusserst attraktiven Tour bei.
- L'Équipe: «Tadej Pogacar wurde zur Mitte des Rennens zum Superherausforderer, einen Tag nach seinem Ausfall auf der Granon-Etappe. Der Slowene war der perfekte Schauspieler für diese Rolle und versuchte fast jeden Tag, den Träger des Gelben Trikots Jonas Vingegaard zu verunsichern.»