Wenn Menschen sich durch einen Krankheitserreger bedroht fühlen, neigen sie dazu, Fremdgruppen zu meiden oder zu stigmatisieren: Es sind vermeintlich die Andern, von denen Gefahr ausgeht. Sie haben die Pandemie verursacht. Sie geben die Krankheit weiter.
Gruppen, zu denen wir nicht gehören, als Infektionsquellen zu beschuldigen, ist ein Reflex, der tief sitzt. Es ist ein sozialpsychologisches Phänomen, das bei jedem Menschen greift.
Wie sehr wir solchen Kurzschlüssen erliegen, hängt von der Fähigkeit und Bereitschaft ab, über unsere Vorurteile und unser Verhalten nachzudenken.
Gruppendenken im Vordergrund
Am häufigsten trifft es Fremde und Minderheiten. Die Anderen, die vermeintlich unhygienisch leben, weniger gebildet sind, sich selbst nicht im Griff haben, anfälliger sind für Krankheiten oder eigenartige Kulturpraktiken pflegen. So geschehen auch in der aktuellen Pandemie.
Schon zu Beginn der Corona-Pandemie trat das Gruppendenken auch in der Schweiz eindrücklich in den Vordergrund. Zuerst traf es die Gruppe der älteren Menschen. Als Risikogruppe und Verbreitungsquelle sollten sie zu Hause bleiben.
Krankheitserreger und Vorurteile
Ältere Menschen berichteten, wie sie auf der Strasse als Virenschleudern beschimpft wurden. Mancherorts war es ihnen zeitweise nicht erlaubt nach draussen zu gehen.
Mit Beginn des Sommers waren dann die Jungen an der Reihe. Sie würden sich nicht an die Distanzregeln halten. Partys seien ihnen wichtiger als die Gesundheit ihrer Mitmenschen.
Wer in der Schweiz zu den Schuldigen gehört
Denselben psychologischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern folgte auch die Diskussion über die zu Beginn höheren Infektionszahlen in der Romandie.
In Deutschschweizer Medien tauchte der Begriff «Todesküsschen» auf. Die Menschen in der Westschweiz würden sich die Seuche mit ihrer Küsserei selbstverschuldet weiterreichen.
Das deutsche Wort «Corona-Graben» wurde in der Romandie als «le coronagraben» zum Wort des Jahres 2020 erklärt.
Lange Geschichte der Schuldzuweisungen
Solche Dynamiken haben Geschichte. Pandemien verstärken Vorurteile. Letztere sind sozusagen die unschöne Seite des menschlichen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit. Menschen sind von Natur keine Einzelgänger, sondern soziale Wesen.
Das heisst: Wir wollen, wir müssen Teil einer Gruppe sein, um uns sicher zu fühlen. Aber zu einer Gruppe zu gehören, beinhaltet eben immer auch, dass es da «meine Gruppe» gibt und die, die nicht dazugehören, «die Gruppe der Andern».
Ob Pest, Pocken oder Corona: In Zeiten von Pandemien laufen Fremdgruppen und Minderheiten grosse Gefahr beschuldigt, verfolgt oder getötet zu werden. Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und die Vertreibung eines Grossteils des europäischen Judentums während der Pest-Epidemien sind trauriger Höhepunkt solch irrationaler Schuldzuweisungen.
Das Bedürfnis, Ursachen und Schuldige zu finden, ist ein Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen. Auf Kosten anderer Menschen. Die Krankheit lässt sich damit nicht eindämmen. Aber es fühlt sich einfach besser an, wenn wir das Gefühl haben, wir wüssten, woher die Gefahr kommt.