Der Winter schlägt immer aufs Gemüt. Corona macht es noch schlimmer. Am Universitätsspital in Lausanne CHUV etwa sind allein die Gesuche für einen stationären Aufenthalt um die Hälfte gestiegen.
Kerstin von Plessen, die Leiterin der universitären Kinder- und Jugendpsychiatrie, rechnet nicht mit einer baldigen Entspannung der Situation.
SRF: Die Anzahl der Hilfe suchenden Kinder und Jugendlichen steigt. Sind Sie beunruhigt?
Kerstin von Plessen: Ja. Die Tendenz einer steigenden Nachfrage hält weiter an. Was uns aber auch beunruhigt: Das Krankheitsbild und die Intensität der Symptome der Kinder und Jugendlichen, die Hilfe bei uns suchen, haben sich geändert.
Welche Symptome sind das?
Die Kinder zeigen erst einmal Stimmungsschwankungen mit Depressionen, aber auch Angststörungen. Wir sehen zunehmend auch Schulängste und besonders auffallend: In letzter Zeit kommen gehäuft Kinder mit Verhaltensstörungen zu uns.
Wie sehen diese Verhaltensauffälligkeiten aus?
Das sind Verhaltensauffälligkeiten, die sich häufig im Schulalltag zeigen. Es geht vor allem um Aggressionen, wie wir sie sonst wenig antreffen. Man muss davon ausgehen kann, dass diese Kinder zu viel Energie haben.
Uns beunruhigt die Intensität der Symptome.
Häufig sind es kleine Jungs, die ihre Energie nicht loswerden können. Zum Beispiel, weil Sportangebote wegen Corona wegfallen und die Kinder ihre Freundinnen und Freunde weniger treffen.
Das, gepaart mit der Unsicherheit, die gemeinhin in der Gesellschaft und auch bei den Eltern häufig zu sehen ist, führt dann zu Verhaltensauffälligkeiten in stärkerem Masse, als wir es normalerweise kennen.
Worunter leiden denn die Jugendlichen, die ebenfalls vermehrt psychiatrische Hilfe brauchen?
Bei den Jugendlichen sehen wir andere Tendenzen. Da ist das grosse Problem der Verlust von Zukunftsperspektiven. Vieles entwickelt sich nun anders, als die Jugendlichen es erwartet haben. Praktika, Reisen, Jobben – alles ist schwieriger oder gar unmöglich geworden.
Ausserdem wiegt bei den Jugendlichen wirklich sehr schwer, dass sie sich nicht mehr so gut mit anderen Jugendlichen austauschen können. Das steht bei kleinen Kindern nicht so sehr im Vordergrund.
Gerade für Jugendliche ist die physische Nähe zueinander sehr wichtig. Die Jugendlichen, die zu uns kommen, leiden denn auch hauptsächlich unter Depressionen und starken Zukunftsängsten.
Kinder und Jugendliche nehmen wahr, dass die Erwachsenen sich nicht einig sind über die Massnahmen gegen die Pandemie. Beobachten Sie angesichts dieser Uneinigkeit einen Vertrauensverlust bei Ihren jungen Patienten?
Das Wort Vertrauensverlust ist sehr gut gewählt. Vertrauensverlust entsteht, weil die Kinder und Jugendlichen erleben, wie Strukturen quasi verschwinden. Darum sind wir sehr dankbar, dass die Schulen noch offen sind.
Jugendliche brauchen zwar Freiheit, aber auch einen sehr klaren Rahmen. Sie sind noch in Entwicklung. Fehlt dieser Rahmen, dann entwickeln sie Ängste und verlieren ihre Zukunftsvisionen.
Das Gespräch führte Katharina Bochsler.