Masken, Sicherheitsabstand, Händewaschen: Wenn uns die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 vorsichtig macht, hilft das, das Virus zu bekämpfen. Angst und ein gesunder Sicherheitsabstand sind also nicht per Definition schlecht.
Aber die Angst und der Abstand können auch zu gross werden. Nämlich dann, wenn das Mitgefühl auf der Strecke bleibt. Wenn wir beginnen, Erkrankte abzuwerten, sie aus der Gesellschaft auszuschliessen, den Kontakt zu ihnen abzubrechen – sie zu stigmatisieren.
Stigmatisierung früher und heute
Im Mittelalter wurden Lepra-Kranke an den Rand der Siedlungen verbannt und mussten ihre Anwesenheit mit Lepra-Rasseln ankünden. Während Pest-Epidemien wurden Fremde oder Randgruppen ausgegrenzt oder verfolgt.
Die Gesellschaft missbrauchte sie als Sündenböcke. Und noch heute kämpfen HIV-Erkrankte gegen Vorurteile, die Unwissen und Unverständnis zuzuschreiben sind.
Auch bei Covid-19 wurde stigmatisiert: Donald Trump sprach vom «China-Virus». Menschen mit asiatischer Herkunft wurden ausgegrenzt. In den Sozialen Medien kam es zu üblen Auswüchsen von Hass und Häme gegenüber Patienten oder deren Angehörigen.
Stigma: Leid ohne Zweck
Jan Fehr, Arzt und Leiter des Departements Public and Global Health an der Universität Zürich, hat sich auf die Erforschung ansteckender Krankheiten spezialisiert, darunter auch HIV. Er sieht keinen Nutzen in der Stigmatisierung. Gerade dass Krankheiten wie Lepra trotz der Stigmatisierung überlebt haben, zeigt seiner Meinung nach, dass die Ausgrenzung Betroffener nicht zur Ausrottung einer Krankheit beiträgt.
Im Gegenteil: Die Angst vor der Stigmatisierung führe dazu, dass sich Erkrankte versteckten und so für das Gesundheitswesen unerreichbar werden. Egal ob Covid-19 oder HIV, wenn Menschen sich aus Angst vor Diskriminierung nicht testen lassen, dann verlagert sich die Krankheit in den Untergrund.
Fern wachsamer Augen können dort Übertragungsketten ungebremst weiterlaufen. Das Stigma spielt so den Viren in die Hände und torpediert unsere Versuche, Erkrankungen auszurotten.
Ein schwieriger Kampf
Stigmata zu bekämpfen, sei gar nicht so einfach, sagt Samia Hurst. Die Bio-Ethikerin ist Vorsitzende der Expertengruppe für ethische, rechtliche und soziale Fragen der Schweizer Covid-19 Task-Force.
Denn jedes Mal, wenn man Menschen sagt, sie sollen eine gewisse Gruppe nicht stigmatisieren, nennt man die Gruppe – und zementiert so die Vorstellung, dass die Gruppe irgendwie anders sei. Genau diese Vorstellung gilt es aber zu ändern.
Die Schuld nicht den Opfern zuweisen
«Erkrankte sind Menschen wie du und ich», sagt Jan Fehr. Wenn wir dies vergessen, öffnen wir der Stigmatisierung Tür und Tor. Samia Hurst schlägt in dieselbe Kerbe: Wer krank wird, ist nicht anders, oder selbst schuld – er oder sie hatte oft einfach Pech.
Gerade in unserer Kultur verfalle man aber oft der Verlockung, die Erkrankten für ihre Krankheit verantwortlich zu machen. Besonders, wenn es Möglichkeiten gibt, sich bis zu einem gewissen Grad gegen eine Ansteckung zu schützen.
Dabei gehe vergessen: Selbst, wenn wir alles unternehmen, um uns zu schützen, hängt es doch von der Gesellschaft ab, ob wir damit Erfolg haben. Haben wir einen Chef oder eine Chefin, die Home-Office erlauben? Trägt das Gegenüber eine Maske? Haben andere ihren Teil dazu beigetragen, uns zu schützen?
Zusammenhalt statt Stigma
Das Rezept, um ein Virus auszurotten, ist nicht, Erkrankte auszugrenzen oder ihnen Schuld an der Erkrankung zuzuschieben. Sondern mehr Menschlichkeit, mehr Verständnis und mehr Mitgefühl.