Das komplexe Leben versteht nur, wer das Einfache durchschaut. Beflügelt von dieser Überzeugung setzt der junge Entwicklungsbiologe Sydney Brenner alles auf einen Wurm. Der Forscher vom Labor für Molekularbiologie in Cambridge ist sich sicher: Der Fadenwurm Caeonorhabditis elegans hat das Zeug, den Biologen künftig im Labor Modell zu stehen. Von diesem einfachen Tier könne der Mensch viel über seine eigene Natur lernen. Brenner wird in der Wissenschaftsgemeinde belächelt und von manchen gar ausgelacht.
Modell mit perfekten Massen
Das ist jetzt genau ein halbes Jahrhundert her und es lacht schon lange niemand mehr über den Wurm und seinen Entdecker. Denn Sydney Brenner hat recht behalten: Der kaum einen Millimeter lange Winzling hat dem Menschen in den vergangenen 50 Jahren tatsächlich Einblick in die komplexesten Prozesse des Lebens und damit auch in unsere eigene Natur gegeben – von der Befruchtung bis zum Tod. C. elegans hat so massgeblich zum enormen Wissenszuwachs beigetragen, den die Entwicklungsbiologie in den letzten Jahren erlebt hat.
Denn der Wurm hat die perfekten Masse: Er passt unters Mikroskop, ist durchsichtig und einfach zu züchten. Er pflanzt sich schnell und zahlreich fort, hat eine klar begrenzte Zahl von Zellen, nämlich genau 959. Er ist ausserdem auch deshalb so populär, weil an ihm sehr viele genetische und molekulare Techniken angewendet werden können. C. elegans modelt heute unter anderem in der Krebs-, Alzheimer-, Alters-, und Autoimmunkrankheitsforschung. Er wird auf Diät gesetzt, von Nikotin abhängig gemacht, hormonell manipuliert und mit Antidepressiva behandelt. Er dient als Modell für die menschliche Fruchtbarkeit, für Sucht- und Sozialverhalten und für vieles mehr.
Grosse Ähnlichkeit zum Menschen
Zwar lebte der letzte gemeinsame Vorfahr von Homo sapiens und Caenorhabditis elegans vor 800 Millionen Jahren. Doch haben Mensch und Wurm noch immer sehr vieles gemeinsam, sagt Michael Hengartner vom Institut für Molekularbiologie an der Universität Zürich: «C. elegans ist mit seinen 959 Zellen einerseits ein sehr einfaches Tier. Andererseits hat es viel mehr Ähnlichkeiten mit uns, als wir auf den ersten Blick erwarten. Etwa die Hälfte der menschlichen Gene ist identisch mit den Genen des Wurms. Das Tier hat Muskeln und es hat ein Nervensystem. Das Nervensystem muss wachsen und sich entwickeln. Muskeln und Nervenzellen müssen miteinander kommunizieren. All diese und viele weitere Aufgaben hat der Wurm biologisch ganz ähnlich gelöst wie wir Menschen.»
Hilfe bei der Krebsforschung
Nicht immer laufen solche Prozesse nach Programm. C. elegans steht deshalb nicht nur für den Normalfall Modell. Von Beginn an, seit den 1960er-Jahren, arbeiten die Forschenden auch mit Mutanten, mit Würmern, deren Erbgut verändert ist. Diese geben unter anderem wichtige Hinweise über Krankheiten beim Menschen.
Helge Grosshans vom Friedrich-Miescher-Institut in Basel erforscht die Entstehung von Krebs und vergleicht die Vorgänge in C. elegans mit jenen in menschlichen Zellen: «Wir schauen, welche Gene in menschlichen Tumoren nicht richtig funktionieren. Dann führen wir gezielt ähnliche Defekte im Wurm ein und beobachten, was passiert. So finden wir heraus, was grundsätzlich auf der molekularbiologischen Ebene in dieser Zelle nicht richtig läuft.»
Dies ist möglich, weil die Forscher mittlerweile das Entwicklungsschicksal jeder einzelnen der insgesamt 959 C. elegans-Zellen im Detail kennen. Das erlaubt ihnen, regelhafte und gestörte biologische Vorgänge besser zu verstehen, sagt Grosshans: «Wenn wir in einem Wurm mit Genschäden sehen, dass gewisse Dinge nicht so laufen, wie sie sollten, dann schauen wir, in welchem Gewebe die Fehler stattfinden. Und weil wir wissen, wie viele Zellen normalerweise in welchen Teilen des Wurms vorhanden sein müssten, gelingt es uns eher, den Ursprung der Störung zu finden.» Dies wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Vorgänge im Menschen zu ziehen.
Der programmierte Zelltod
Die Forschung an C. elegans hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Aufschluss gegeben über grundsätzliche biologische Prozesse. Die Biologen haben beispielsweise im Wurm zum ersten Mal überhaupt beobachtet, dass Zellen sich das Leben nehmen. Mittlerweile weiss man, dass der programmierte Zelltod in allen Tieren – und damit auch im Menschen – stattfindet. Allein im menschlichen Körper sind es täglich Millionen.
Michael Hengartner ist einer der Entdecker der so genannten Apoptose: «Im Verlauf der Evolution haben Zellen gelernt, ihr eigenes Gleichgewicht zu messen. Gerät eine Zelle aus dem Gleichgewicht, startet sie ein Sicherheitsprogramm. Sie nimmt sich das Leben, weil sie ein Risiko für den Organismus sein könnte. Ist eine Zelle beispielsweise von einem Virus befallen, läutet sie ihren Untergang ein, damit der Virus mit ihr stirbt und die Nachbarzellen gesund bleiben. Auch Zellen, die sich wegen eines Gendefekts sehr schnell vermehren, töten sich selbst, bevor sie sich zu bösartigen Krebszellen entwickeln.» Der programmierte Zelltod ist also ein überlebenswichtiger Mechanismus. Folgerichtig hängen einige der schwersten Erkrankungen beim Menschen mit Fehlregulationen des Zell-Suizids zusammen. Neben Autoimmunkrankheiten, bspw. dem Lupus erythematodes - sind dies der Krebs und neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson.
Winziger Nobelpreisträger
Alle diese Krankheiten versteht man heute dank C. elegans besser. Sein Entdecker, der Entwicklungsbiologe Sydney Brenner, erhielt 2002 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin – gemeinsam mit seinen beiden Forscherkollegen Robert Horvitz und John Sulston. In seiner Dankesrede erwies Brenner dem Wurm eine besondere Ehre: «Ich denke, der vierte Nobelpreisträger heisst dieses Jahr: Caenorhabditis elegans.»