Stellen Sie sich vor: 200'000 Hirnzellen, davon 82'000 gesprächige Nervenzellen, miteinander verbunden durch fünfeinhalb Kilometer Leitungen. Und das alles in nur einem winzigen Kubikmillimeter Hirnmasse.
Einem internationalen Forschungsteam ist es gelungen, ein sandkornkleines Stück Mäusehirn als 3-D-Modell zu kartieren. Jetzt präsentieren die Wissenschaftler des internationalen Forschungsprojekts MICrONS, was sie entdeckt haben. Wissenschaftsredaktorin Katharina Bochsler ordnet ein.
Auch Forschende, die nicht am Projekt beteiligt sind, sprechen von einem Meilenstein. Warum?
Ein Kubikmillimeter, das ist wirklich ein winzig kleines bisschen Hirn. Trotzdem ist die Analyse ein grosser Wurf. Allein die Zahlen verraten die Dimensionen: 82'000 Nervenzellen schicken einander Botschaften, aktivieren oder hemmen sich via kilometerlange Leitungen. Da müssen gigantische Datenmengen verarbeitet werden. In diesem Fall 1.6 Petabyte. Das entspricht der Datenmenge eines HD-Videos, das 22 Jahre ohne Unterbruch läuft.
Wie sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denn genau vorgegangen?
Sie haben sich auf den visuellen Kortex einer Maus fokussiert, wo die Signale verarbeitet werden, die von den Augen kommen. Die Forschenden haben das Tier Filme schauen lassen und haben geguckt, welche Informationen die Neuronen austauschen und wie aktiv die Nervenzellen sind. Danach haben sie diesen Kubikmillimeter Gehirnmasse in mehr als 28'000 Scheiben geschnitten und mithilfe von Künstlicher Intelligenz ein 3-D-Modell rekonstruiert.
Was kann man aus diesen Daten herauslesen?
Man kann dem Gehirn quasi bei der Arbeit zuschauen. Da drängen sich auf kleinstem Raum Unmengen an neuronalen Plappermäulern. Nuna da Costa, ein beteiligter Forscher, sagt: «Das ist, wie wenn Sie an eine Party mit 80'000 Gästen kommen. Sie hören all diese Gespräche auf einmal, aber Sie wissen nicht, wer mit wem spricht und Sie wissen nicht, was die Leute sprechen... Wenn wir nun wissen, wer mit wem welche Geschichten austauscht, dann können wir auch besser sagen, was auf der Party passiert.» Eine solche Party haben die Wissenschaftler nun eben beobachtet und dabei auch Party-Gäste entdeckt, von denen sie zuvor nichts wussten: zum Beispiel verschiedene Arten von hemmenden Neuronen, die nur mit bestimmten Neuronentypen sprechen beziehungsweise diese zum Schweigen bringen.
Wie gut lässt sich diese Forschung an Gehirnen von Mäusen auf das menschliche Gehirn übertragen?
Auch wenn es die eine oder den andern kränken mag: Das Gehirn von Mäusen ähnelt dem von Menschen so stark, dass sich daraus Schlüsse ziehen lassen. Hinweise etwa, wie Medikamente gegen psychische Krankheiten entwickelt werden können, die keine Nebenwirkungen haben. Im Moment funktionieren viele Psychopharmaka wie stumpfe Instrumente. Sie wirken zu wenig präzise und treffen auch Zelltypen, die mit der Störung nichts zu tun haben. Die neuen Erkenntnisse können helfen, Schizophrenie, Parkinson, Alzheimer oder Autismus besser zu verstehen und auch Phänomene wie Intelligenz oder Bewusstsein.
Was sind die nächsten Schritte in der Hirnforschung, die durch diese Forschung an Mäusegehirne angestossen werden könnten?
Die MICrONS-Wissenschaftlerinnen haben bereits ein grösseres Projekt im Sinn. Sie wollen das gesamte Mäusehirn kartieren. Mit den Methoden, die ihnen im Moment zur Verfügung stehen, würde das Jahrzehnte dauern. Darum treibt die Forschung auch die Entwicklung neuer Technologien und Software voran.