Lutz Jäncke gehört zu den meistzitierten Forschern zum Thema Gehirn. Im Interview erklärt er, warum es Menschen gibt, die Musik bunt wahrnehmen, und wie jeder sein Gehirn auf Trab bringen kann. Und weshalb alles, was wir Sehen, Hören oder Riechen kein Abbild der Realität ist.
SRF News: Wir erleben die Welt von Person zu Person unterschiedlich – wieso?
Lutz Jäncke: Alles, was wir wahrnehmen, wird in verschiedenen Hirnarealen interpretiert und mit dem vorhandenen Wissen verknüpft. Unser Gehirn funktioniert wie ein Dirigent, der das Orchester der Sinne nach unseren Vorlieben dirigiert. Unsere Wahrnehmung ist also weitestgehend das Produkt dieser Interpretation.
Wir sind blind für diesen Teil der Welt.
Zudem hängt die Wahrnehmung davon ab, worauf sich unsere Aufmerksamkeit fokussiert – wie bei einer Taschenlampe. Dort, wo der Lichtstrahl hinfällt, werden Informationen aufgenommen. Wo es dunkel bleibt, gibt es keine Information. Wir sind blind für diesen Teil der Welt. Wir nennen dieses Phänomen funktionelle Blindheit.
Menschen mit Synästhesie, einer besonderen Form der Wahrnehmung, sind für die Neurologen besonders interessant, warum?
Synästhesie ist eine seltene Form der Doppelwahrnehmung: Ein bestimmter Reiz löst eine Wahrnehmung aus, die eine zweite Wahrnehmung erzeugt. Menschen mit einer Ton-Farb-Synästhesie hören einen Ton und das triggert gleichzeitig eine Farbwahrnehmung. Sie hören also Musik uns sehen dabei Farben. Umgekehrt funktioniert das aber nicht, wenn sie Farben sehen, löst das keine Musik- oder Tonwahrnehmung aus.
Menschen mit Synästhesie haben ein anderes Gehirn?
Ihr Gehirn ist viel stärker vernetzt. Die Gehirnregionen verfügen über mehr und effizientere Verbindungen. Dadurch können die verschiedenen Bereiche miteinander kommunizieren. Durch die Synästhesie-Forschung können wir lernen, wie diese Verbindungen mit besonderen Fähigkeiten verbunden sind.
Die Gehirnregionen verfügen über mehr und effizientere Verbindungen.
Dieses Wissen kann genutzt werden, um zu untersuchen, wie man sich selbst trainieren kann, um neue Fähigkeiten zu erwerben und das Gehirn neu zu verdrahten. Letztlich ging es in meiner Forschung darum, die Plastizität des Gehirns zu verstehen. Also die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Erlernen und Erleben neu zu strukturieren.
Können wir uns selbst trainieren, um stärkere Verbindungen zu entwickeln?
Ja, jeder kann sein Gehirn effizienter vernetzen. Wenn wir eine Sprache lernen, ein Instrument spielen oder Sport treiben, bildet das Gehirn neue Verbindungen oder verstärkt die bestehenden. Hört man damit auf, bilden sie sich jedoch wieder zurück. Ausserdem besitzen wir die natürliche Fähigkeit, die Welt multimodal wahrzunehmen: Wir können Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen miteinander verbinden, um eine reichhaltigere und differenziertere Wahrnehmung zu erhalten.
Wie kann mir das beim Vernetzen helfen?
Wenn wir Musik hören, können wir uns auch an die Farben, Bilder und Gefühle erinnern, die mit der Musik verbunden sind. Um unser Gehirn zu trainieren, noch flexibler zu werden, können wir zum Beispiel versuchen, uns beim Lesen von Büchern in Geschichten zu vertiefen oder beim Hören von Musik Bilder zu visualisieren oder beim Essen zu schmecken, welche Geschmacksnoten es enthält.
Um diese Fähigkeit weiterzuentwickeln, müssen wir sie jedoch regelmässig üben.
Um diese Fähigkeit weiterzuentwickeln, müssen wir sie jedoch regelmässig üben. Diese Fähigkeit des Menschen, durch subjektive Wahrnehmungen und Erfahrungen geformt zu werden, ist wahrhaft bemerkenswert. Das ist auch der Grund, weshalb ich eine tiefe Ehrfurcht habe vor der Individualität.
Das Gespräch führte Anatol Hug.