In einer Gesellschaft, in der man immer und überall können muss, ist schlechter oder kein Sex ein Tabu. Mit Viagra, so schien es anfänglich, würden Potenzstörungen – oder wie es fachmännisch heisst: erektile Dysfunktionen – der Vergangenheit angehören.
Potenzprobleme sind kein körperliches Problem
Mehr als 64 Millionen Männer haben bisher über drei Milliarden dieser Potenz-Pillen geschluckt. Mit zweifelhaftem Erfolg.
Denn mit Viagra wurde eines deutlich: Die erektile Dysfunktion ist mitnichten ein rein körperliches Problem. Hier treffen viele Faktoren aufeinander, vor allem psychische und emotionale, weiss der Kulturanthropologe und Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter.
«Viagra hat quasi den Schleier gelüftet. Viele Männer glaubten: ‹Ich brauche nur eine Erektion zu haben und dann habe ich lustvollen Sex›. Viagra hat aber gezeigt: So einfach ist es offenbar nicht», so Pastötter. Viagra wirke nämlich nur dann, wenn der Mann bereits erregt sei. Wenn die sexuelle Erregung fehle, helfe auch Viagra nicht.
Guter Sex ist mehr als ein erigierter Penis
Die Erregung beginnt im Kopf. Doch gerade dort, so Pastötter, gebe es bei vielen Männern eine Blockade. «Sexualität hat für den Mann oft Überfallcharakter. Einerseits führt Sex zur Lust, andererseits sorgt Sex dafür, dass der Mann die Kontrolle verliert.» Aber genau vor diesem Kontrollverlust hätten viele Männer Angst.
Gute Sexualität ist ein Wechsel von Anspannung und Entspannung. Viagra unterbricht diesen Kreislauf.
Viagra habe auch neue Probleme geschaffen, so Pastötter. Denn: Ist die Erektion erst einmal hergestellt, kann sie dank der Pille bis über zwei Stunden aufrechterhalten werden.
Durchaus auch ein schmerzhafter Zustand, der eigentlich nur im Porno-Geschäft von Vorteil ist.
Lifestyle-Medikament mit psychischen Nebernwirkungen
Diese unrealistischen Pornobilder setzen wiederum gerade junge Männer unter Druck. Da der Patentschutz des Wirkstoffs mittlerweile abgelaufen ist, gibt es Viagra in vielen Ländern rezeptfrei und zu Billigpreisen zu kaufen.
So würden gerade junge Männer die Potenzpille wie ein Lifestyle-Medikament konsumieren, um ihre Performance-Ängste abzubauen. Doch das Gegenteil sei der Fall, die Ängste würden sich zementieren, sagt Pastötter. «Gute Sexualität ist ein Wechsel von Anspannung und Entspannung.» Viagra unterbricht diesen Kreislauf und erzeugt nur eine körperliche Anspannung.
Der Sexologe begrüsst deshalb die Slow-Sex-Bewegung. Im Grunde ein alter Hut, denn sie beruht auf tantrischen Vorstellungen, wo der Weg das Ziel ist. Es gelte nicht in jedem Fall den Orgasmus zu erreichen: «Viel wichtiger ist es, sich auf seinen Körper und den Körper des anderen einzulassen.»