Der Ansatz der ETH-Forscher ist überraschend, denn was sie gemessen haben, waren nicht die Schmerzen selbst, sondern die Bewegungsabläufe von Patienten mit Schmerzen. Zunutze gemacht haben sich die Wissenschaftler die beinahe schon banale Erkenntnis, dass sich Menschen unter Schmerzen anders und weniger bewegen. Die Frage war nur: wie anders?
Mithilfe von Bewegungssensoren konnten die Forscher über mehrere Jahre einen «Farbcode der Schmerzen» entwickeln.
Sage mir, wie du dich bewegst – und ich sage dir, wie sehr du leidest
Für ihre Studie haben Ionescu und ihr Team Bewegungssensoren an Brust, Oberschenkel und Schienbein ihrer Probanden montiert. Diese zeichneten jede Art von alltäglicher Bewegung oder Ruhezustände über fünf Tage acht Stunden lang auf. Dazu ausgewählt wurden 60 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, die kurz vor einer Behandlung standen, sowie 15 gesunde Menschen. Die Forscher haben alle Probanden bis sechs Monate nach dem Eingriff begleitet und gemessen. «Die Methode ist objektiv, weil sie so präzise ist. Wir haben nicht nur punktuell im Labor gemessen, sondern über einen grossen Zeitraum hinweg die alltäglichste Bewegung. Ein Simulieren ist über diese Zeitspanne hinweg kaum möglich», präzisiert Ionescu.
Die Forscherin definierte neu 18 Aktivitätslevels von «ganz immobil» bis «höchste Mobilität» und ordnete ihnen Farben zu. Blau steht für null, rot für sehr intensive Aktivität. Es ist nicht nur wichtig zu wissen, wie lange ein Patient rennt, sitzt oder liegt, sondern auch mit welcher Intensität er dies tut. Aufgrund dieser Informationen erstellten die Forscher einen «Farbcode des Schmerzes», welcher die Intensität der Bewegung auf der Zeitachse zeigt. «Ein Schmerzpatient und ein gesunder Mensch mögen beide die gleichen zwei Stunden am Tag gelaufen sein. Unser Farbcode zeigt nun, wie unterschiedlich die beiden ihre Aktivität zeitlich verteilt haben», erklärt Ionescu. «Der Gesunde ist zwei Stunden am Stück gelaufen, während der Patient mit Schmerzen dies in kleinen Etappen tut, mit grösseren Ruhepausen dazwischen.»
Viel versprechende erste Resultate
Bei der Auswertung fanden die Forscher deutliche Unterschiede zwischen Schmerzpatienten und gesunden Probanden. Bei den Schmerzpatienten verglichen sie auch die Messwerte ein paar Tage vor und nach der Behandlung - und auch diese veränderten sich. Dank dem Farbcode könnten künftig Mediziner nicht nur den Therapieverlauf beurteilen, sondern auch die Diagnose verfeinern.
Eric Buchser, Anästhesist am Hôpital de Morges, hat die Studie begleitet und klinisch ausgewertet. Vor voreiligen Schlüssen warnt er allerdings. Etwa wenn es um einen Beweis gehe, ob ein Schmerzpatient simuliert oder nicht: «Schmerzen bleiben immer subjektiv. Es ist Unsinn zu meinen, sie lassen sich objektiv messen. Die Farbcode-Methode ist hingegen interessant, denn sie zeigt, wie sich Schmerzen auf das Bewegungsverhalten auswirken. Und wenn dies wirklich hieb- und stichfest ist, können wir vielleicht Schmerztypen identifizieren. Etwa wenn der Farbcode eines Menschen mit Arthrose anders aussieht als derjenige mit Parkinson.»
Bevor es soweit ist, gibt es für die Forscher jedoch noch viele Daten zu sammeln. Deshalb hat das Team von Ionescu bereits eine zweite Studie lanciert: «Wir wollen besser verstehen, was die Normen gesunder und kranker Menschen sind. Wir wüssten auch gerne, ob Arbeit einen Einfluss hat oder das Alter und ob der Farbcode uns einen Hinweis geben könnte.»