«Frauen haben bei gleichen Diagnosen weniger Chancen, intensivmedizinisch betreut zu werden als Männer», sagt Caroline Gebhard. Sie ist Hauptautorin einer Studie der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin, die untersucht hat, ob es bei der Patientenaufnahme auf die Intensivstation Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt.
Die Forschenden haben 500'000 Patienteneinträge von Schweizer Intensivstationen aus den Jahren 2012 bis 2016 durchforstet. Ein Resultat hat besonders irritiert: «Am ausgeprägtesten war der Trend bei den jüngeren Frauen, also Frauen unter 45 Jahren: Die mussten deutlich kränker sein als gleichaltrige Männer, um auf die Intensivstation aufgenommen zu werden.»
Standardpatient war lange männlich
Die Studie wirft ein Schlaglicht auf ein historisch gewachsenes Problem: Die Medizin orientiert sich am Mann als Standard. Die antiken Griechen sahen den weiblichen Körper als verstümmelte Version des männlichen, so beschrieb ihn Aristoteles. Obwohl moderne Ärzte dies natürlich nicht mehr tun, hat sich die Vorstellung vom männlichen Körper als Standardkörper in der Medizin über die Jahrhunderte gehalten – bis heute.
Das fängt in der Grundlagenforschung an. In vielen Studien werden die Daten nur an männlichen Versuchstieren erhoben. Besonders ausgeprägt ist dies in der Pharmakologie, die Arzneimittel erforscht.
«Es ist besorgniserregend, dass gerade dort, wo es um die Entwicklung neuer Wirkstoffe geht, offensichtlich dieser Bias besteht», sagt Thorsten Buch, Professor für Labortierkunde an der Universität Zürich. Auch in den klinischen Studien, in denen Medikamente oder Impfstoffe am Menschen getestet werden, sind Frauen bis heute deutlich untervertreten.
Andere Gene, Hormone und Stoffwechsel
Dabei sind die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau in der Physiologie nicht zu unterschätzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Geschlechtshormone und wie sie die Vorgänge im menschlichen Körper beeinflussen. So verstoffwechseln Frauen Medikamente nicht genau gleich wie Männer.
Auch ihre Immunabwehr funktioniert teilweise anders, da viele Gene, die das Immunsystem regulieren, ausschliesslich auf dem X-Chromosom liegen. Von denen haben Frauen bekanntlich zwei (XX), Männer nur eines (XY).
Auch Krankheiten äussern sich je nach Geschlecht unterschiedlich. Das bekannteste Beispiel ist der Herzinfarkt, der sich beim Mann mit dem vermeintlich typischen Brustschmerz, bei Frauen in Form von Bauch- oder Rückenschmerzen zeigt.
Solche Unterschiede könnten auch die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen auf der Intensivstation erklären, vermutet Medizinerin Caroline Gebhard: «Möglicherweise wird der Krankheitsgrad von Frauen in Akutsituationen systematisch unterschätzt.» Systematisch deshalb, weil die sogenannten Risiko-Scores zur Beurteilung eines Patienten nicht nach Geschlecht unterscheiden – und sich eher am Mann orientieren.
Ärztinnen und Ärzte sensibilisieren
Die gute Nachricht ist, dass das Problem erkannt wurde. Seit kurzem tut sich an den Universitätsspitälern und Hochschulen einiges, um der Gendermedizin Platz einzuräumen:
- Seit Herbst 2020 gibt es einen Weiterbildungskurs (CAS) «Geschlecht und Gender in der Medizin», den die Universitäten Bern und Zürich gemeinsam für Ärztinnen und Ärzte anbieten.
- Immer mehr Forschungsgeldgeber verlangen, dass Forschende in ihren Studiendaten nicht nur Männer berücksichtigen. Auch die Fachzeitschriften fordern dies zunehmend.
- Die medizinische Fakultät der Universität Zürich hat schon vor Jahren eine Fachkommission «Sex and Gender» ins Leben gerufen, ab kommendem Herbstsemester bietet sie zudem für Medizinstudierende ein Mantelstudium «Sex and Gender» an.
- Schon weiter ist man in der Westschweiz: Am Zentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit «Unisanté» des Universitätsspitals Lausanne besteht eine spezielle Einheit «Gendermedizin». Verschiedene Forschungsprojekte zum Thema sind am Laufen, und auch in der ärztlichen Ausbildung spielt Gender eine Rolle.
Gemessen an der Grösse des Gesundheitswesens sind dies bescheidene Schritte. Doch immerhin scheint vielerorts der Wille vorhanden, den Gendergap in der Medizin zu schliessen.