Eigentlich ist der Begriff «Blutverdünner» irreführend. Die Medikamente machen das Blut nicht etwa «flüssiger», sondern hemmen seine Gerinnung. An sich ist die Blutgerinnung ein wichtiger Prozess, der eine tragende Rolle in der Wundheilung spielt – bilden sich aber Klumpen von Blutkörperchen an den falschen Stellen, können sie lebenswichtige Blutgefässe verstopfen und zu Herz- oder Hirninfarkten führen. Blutverdünnende Substanzen verhindern diesen Prozess oder lösen bestehende Klumpen wieder auf.
Am Anfang der Entwicklung der Blutverdünner stand wie so oft in der Medizin der Zufall: Das Schlüsselereignis war die Entdeckung der «Süssklee-Krankheit» in den 1930er-Jahren, bei der Rinder von US-Farmern nach dem Fressen von feuchtem Heu innerlich verbluteten. 1936 war klar, welcher Prozess dafür verantwortlich ist: Ein Schimmelpilz hatte die im Süssklee enthaltenen Cumarine in Dicumarol umgewandelt - einen Wirkstoff, der Gerinnungsfaktoren im Blut daran hindert, aktiv zu werden.
Die tödliche Substanz kam zu naheliegender Anwendung: 1949 wurde das synthetisch erzeugte «Warfarin» als Rattengift patentiert und geriet erst ins Visier der Heilmittelforschung, als 1951 ein Kadett der US-Navy einen Selbstmordversuch mit dem Gift nicht nur überlebte, sondern sich auch wieder vollständig davon erholte. Eine prominente Anwendung erlebte Warfarin schon wenige Jahre später, als es 1955 dem damaligen amerikanischen Präsidenten Dwight E. Eisenhower nach einem Herzinfarkt erfolgreich verabreicht wurde.
Schwierige Dosierung
Während sich in den USA Warfarin zum Standard-Blutverdünner entwickelte, etablierte sich in Europa das verwandte «Marcumar» (Wirkstoff: Phenprocoumon) als Mittel der Wahl. Beiden gemein ist, dass die Risiken bei korrekter Einnahme und richtiger Dosierung gering sind. Ist der Patient jedoch falsch eingestellt, drohen Komplikationen: Zu hoch dosiert besteht die Gefahr innerer Blutungen, zu tief dosiert drohen Blutgerinnsel. Eine regelmässige Kontrolle der Blutwerte ist deshalb lebensnotwenig.
Neue Medikamente drängen auf den Markt
In der Schweiz werden rund 70‘000 Patienten mit blutverdünnenden, bzw. gerinnungshemmenden Medikamenten behandelt. Knapp die Hälfte der Betroffenen müssen sie über Jahre hinweg oder das Leben lang einnehmen. Nun drängen neue Mittel auf den Markt, die gezielter in die Blutgerinnung eingreifen als die bisher verfügbaren Präparate. Deren Dosierung ist weniger tückisch, die Gefahr innerer Blutungen ist erheblich kleiner.
Was bedeutet der medizinische Fortschritt für die Patienten und Pharmaunternehmen aus wirtschaftlicher Sicht? «Puls» hat sich mit SRF-Wirtschafts-Expertin Marianne Fassbind unterhalten.
«Puls»: Gleich drei Pharmaunternehmen drängen in der Schweiz mit ihren neuen Blutverdünnungsmitteln auf den Markt. Wieso dieser Run?
SRF-Wirtschafts-Expertin Marianne Fassbind: Herzkreislauf-Krankheiten zählen zu den häufigsten Krankheiten überhaupt. Dies hängt mit der demographischen Entwicklung zusammen: Je älter die Menschen werden, desto häufiger kommt diese Krankheit vor. Sie hängt auch mit der Zivilisation zusammen: Je weniger Sport getrieben wird, je ungesünder man isst, je mehr Übergewicht man hat, desto häufiger leiden die Menschen an Schlaganfällen und Herzinfarkten - klassische Einsatzgebiete von Blutverdünnungsmitteln. Die hohe Nachfrage nach solchen Mitteln führt also dazu, dass die Pharmabranche hier einen lukrativen Markt sieht. Ausserdem sind die Margen in diesem Geschäft sehr hoch.
Wie wichtig ist für Pharma-Unternehmen die Einführung neuer Medikamente?
Das ist ausserordentlich wichtig! Wer zuerst ein neues Medikament einführt, kann die höchsten Preise dafür verlangen, da die Konkurrenz fehlt. Zudem können die neuen Medikamente patentiert werden. Das Pharmaunternehmen, das das neue Medikament auf den Markt gebracht hat, kann sich so mehr oder weniger sicher sein, dass das Medikament bis zum Patentablauf nicht kopiert wird und dass damit die Preise und Margen hoch gehalten werden können.
Ausserdem ist es für ein Pharmaunternehmen wichtig, dass es neue Medikamente auf den Markt bringen kann, wenn alte Medikamente ihre Patente verlieren. Andernfalls erleidet das Unternehmen sofort einen Ertragseinbruch, weil die patentlosen Medikamente kopiert werden.
Und schliesslich ist es natürlich auch eine Imagefrage: Ein Unternehmen, das viele neue Medikamente auf den Markt bringt, gilt als besonders innovativ.
Soweit aktuell absehbar, werden die neuen Medikamente zu einem deutlich höheren Preis verkauft als die alten. Gibt es denn keinen Preiskampf?
Das hängt eben mit dem Patentschutz zusammen. Solange ein neu lanciertes Medikament Patentschutz geniesst, kann es von der Konkurrenz nicht kopiert werden. Das hält die Preise hoch. Eine klassische Rechtfertigung der Pharmaunternehmen für hohe Preise sind zudem die hohen Kosten für Forschung und Entwicklung.
Blutverdünnungsmedikamente sind ein Milliardengeschäft. Heute schon werden weltweit rund fünf Milliarden Dollar umgesetzt – bis in drei Jahren soll sich das Volumen mindestens verdoppelt haben. Gibt es noch andere Bereiche in der Medizin, wo ähnliche Summen für Medikamente umgesetzt werden?
Die teuersten Medikamente sind Krebsmittel. Deren Volumina sind zwar kleiner als bei Blutverdünnungsmittel, aber die Margen und die Preise sind viel, viel höher.