Genaue Zahlen, wie viele Gesunde für etwas behandelt werden, das sie gar nicht haben, gibt es nicht – aber es ist wohl gar nicht so selten. Denn Überdiagnostik tritt an vielen unterschiedlichen Orten auf.
Berühmtes Beispiel ist der Prostatakrebs, den das PSA-Screening im Visier hat, ein Bluttest bei an sich gesunden, beschwerdefreien Männern. Ob der PSA-Routine-Test wirklich Leben rettet, ist umstritten, denn es sieht so aus, als würde das PSA-Screening an sich nichts an den Heilungschancen ändern. Als unschöne Nebenwirkung des Screenings erhalten jedoch viele Männer eine Krebsdiagnose, die sonst gar nie erfahren hätten, dass in ihnen ein Krebsherd schlummert – weil sie einen sehr kleinen und langsam wachsenden Krebs haben.
Leider kann die Medizin heute nicht mit absoluter Sicherheit gefährliche von ungefährlichen Tumoren unterscheiden. Deshalb werden auch diese Männer oft relativ aggressiv behandelt – und müssen mit den psychischen Folgen einer Krebsdiagnose leben.
Überempfindliche Tests
Ein grosses Problem sind auch Hightech-Tests, die derart feine Messungen machen, dass sie viel zu häufig Alarm schlagen. Ein Beispiel hierfür ist die Ultraschall-Untersuchung der Schilddrüse. Sie wird immer häufiger auch ohne Verdacht auf Schilddrüsenkrebs eingesetzt. Und weil die Ultraschall-Geräte heute so empfindlich sind, finden die Ärzte damit auch die winzigsten Wucherungen. Um auf Nummer sicher zu gehen, wird dann oft operiert, also die ganze Schilddrüse entfernt.
Dass das zu viel des Guten ist, zeigt ein Blick in die Statistik: Die Diagnose Schilddrüsenkarzinom wird heute mehr als doppelt so häufig gestellt wie vor zehn Jahren. Doch diese Flut an Diagnosen – und Behandlungen – hat unter dem Strich nichts an der Todesrate geändert. Es sterben heute gleich viele Menschen an Schilddrüsenkrebs wie vor zehn Jahren.
Über die Gründe für die Diagnoseflut und was man dagegen tun könnte, haben sich der Arzt Nicolas Rodondi und der Gesundheitsökonom Klaus Eichler in der Sendung «Kontext» auf Radio SRF 2 unterhalten.