Die Skepsis ist so alt wie die erste Impfung – und sie nimmt weltweit zu. Die Angst vor der Nadel, der Widerwille gegenüber staatlichen Impfprogrammen und die Weigerung sich und die eigene Familie impfen zu lassen, hat allerdings Nebenwirkungen. In den vergangenen Jahren etwa in Form einer steigenden Zahl von Maserninfektionen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt die Impfskepsis deshalb heute zu den zehn grössten Gesundheitsbedrohungen weltweit.
Die Impfung berührt Körper und Geist
Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Manche denken, sie würden nicht krank. Andere wiederum zweifeln an der Wirksamkeit oder an der Verträglichkeit einer Impfung. Das treffe ganz besonders auf die in Rekordzeit entwickelten Corona-Impfstoffe zu und sei durchaus nachvollziehbar, sagt Steven Taylor.
Taylor forscht an der Universität Vancouver zur Psychologie hinter Pandemien. Mit seinem Buch «The Psychology of Pandemics», das im Dezember 2019 erschienen ist – just als die ersten Covid-19 Fälle bekannt wurden – hat er die psychologischen Dynamiken der Corona-Pandemie präzis vorweggenommen.
Angst ist ansteckend
Kein Gefühl ist so ansteckend wie die Angst. Egal ob sie im Gewand der Aggression daherkommt oder in der Extremform von Verschwörungstheorien. Entsprechend emotional aufgeladen sind Impfdebatten. Heute wie vor 200 Jahren.
Menschen fragen sich: Was steckt in der Spritze? Aber auch: Was steckt hinter den Motiven jener, die sie empfehlen? Die Angst reicht also weit über den Körper hinaus.
Man spricht über die Impfung und meint viel mehr
Beim Sprechen und Streiten übers Impfen geht es immer auch um Werte. Eberhard Wolff, Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker an den Universitäten Zürich und Basel hat die Impfdebatten der letzten 200 Jahre analysiert: «Es geht um Weltbilder, um den Umgang mit Risiken, um individuelle, gesellschaftliche und politische Überzeugungen und Denksysteme.»
Im Zentrum stehe oft die Vorstellung von Freiheit, aber auch von Verantwortung. Letztlich geht es auch um die Frage, ob Medizin vertrauenswürdig oder doch eher gefährlich ist.
Gegenseitiges Unverständnis
Die Impfung trifft irgendwie mitten ins Herz. Egal ob wir nun für oder gegen das Impfen sind.
In der Schweiz sind die Impfverweigerer mit 24% mittlerweile deutlich in der Minderheit. Die Zahl der Menschen, die sich heute sofort impfen lassen würden hat sich seit November fast verdreifacht. Das zeigt die 6. Corona-Umfrage der SRG.
Pflegepersonal ist seit jeher impfkritisch
Unter den Impfkritischen sind damals wie heute mehr Frauen als Männer. Man findet sie zum Beispiel in der Pflege. Die Impfskepsis der Pflegenden ist nicht neu.
Dunja Nicca ist Pflegewissenschaftlerin an der Universität Zürich. Sie hat die Einstellung von Pflegenden zur Grippe-Prävention erforscht.
Pflegende fühlen sich in ihrer Selbstbestimmung verletzt
Sie stellt fest, dass die Pflegenden den Schutz ihrer Patientinnen als Wert sehr hoch halten. In der Impffrage aber scheinen andere Werte entscheidender zu sein: «Die Pflegenden fühlen sich durch den ständigen Druck, sich impfen zu lassen, angegriffen. Darum kommt es bei vielen zu einer Abwehrreaktion.» Die Impfverweigerung ist also eine Form von Widerstand.
Impfverweigerung als Widerstand gegen die Hierarchie
Dieses Reaktionsmuster hat einen Namen: «Psychologische Reaktanz». Menschen neigen zu psychologischer Reaktanz, wenn sie sich in ihrer Autonomie bedroht fühlen.
Dass gerade Pflegende, in der Mehrheit Frauen, sich vor Fremdkontrolle zu schützen versuchen ist kein Zufall. Wenn sich denn einmal die Gelegenheit dazu bietet. Gesundheitsinstitutionen sind hierarchisch organisiert.
Pflegerinnen erleben immer wieder, dass ihre Meinung nicht gefragt ist. Das ist bei der Impfdebatte anders: Hier hat ihr Nein Gewicht. Hier haben sie Macht.
Altruismus für die Herde
Der Mensch entscheidet zwar gerne autonom, bleibt aber im Kern immer ein soziales Wesen. Lasst uns die Impfskeptikerinnen und -skeptiker dort abholen, sagt Psychologe und Pandemie-Forscher Steven Taylor: «Wenn Sie es nicht für sich tun, tun Sie es für die Herde.»
Denn auch dies zeigt die Forschung: Für viele Menschen ist Altruismus ein zentraler Wert – gerade in Krisenzeiten.