Seit 2011 werden schweizweit die eidgenössischen medizinischen Staatsexamen mit Schauspielpatienten durchgeführt. Das bedeutet für die werdenden Ärzte: Statt wie vorher bei realen Patienten anhand von Fragen und Untersuchungen zur korrekten Diagnose zu kommen, haben die Kandidaten nun Schauspieler vor sich. Diese müssen strikt nach Skript Auskunft geben, Schmerzen und andere Krankheitssymptome simulieren, je nach Rolle besorgt nachfragen oder sich beraten lassen.
SRF: Jutta Bisaz, wie viele Schauspieler braucht es für eine Prüfung?
Jutta Bisaz: Ein medizinisches Staatsexamen besteht aus drei Prüfungstagen, an denen jeweils parallel auf drei Stockwerken dieselben zwölf Fälle geprüft werden, also pro Tag 36 Schauspieler plus zwölf Reserveschauspieler. Damit die am Vormittag geprüften Kandidaten den am Nachmittag geprüften Kandidaten nichts verraten können, werden die Nachmittags-Kandidaten bis zu ihrem Prüfungsbeginn in Quarantäne gehalten. Aus demselben Grund werden an Tag 2 und 3 komplett andere Fälle gespielt, wieder mit je 36 Schauspielern. Da ein Schauspieler jedoch mehrere Rollen spielen kann, kommen wir mit rund 100 Schauspielern aus.
Wie werden die Schauspieler ausgewählt?
Via Castings, in denen wir Leute je nach Bedarf vor allem nach Alter, Geschlecht und BMI auswählen. Besonders gefragt sind ältere, leicht übergewichtige Schauspieler. Wir lassen die Interessenten im Casting probehalber zwei Rollen spielen und sehen so schnell, ob sie sich für unseren Schauspieler-Pool eignen. Massgeblich ist, eine Rolle authentisch spielen zu können, ohne zu übertreiben, und sich an die Vorgaben im Skript halten zu können. Professionelle oder semiprofessionelle Schauspieler halten sich mit Laienschauspielern in etwa die Waage.
Wie sieht das Training aus?
Das Training erfolgt spezifisch für jede zu spielende Rolle, jedes Mal aufs Neue, denn ein Fall wird nie mehr als einmal verwendet. Alle Schauspieler, die diese Rolle spielen, werden zusammen zweimal zwei Stunden trainiert. Dabei geht es einerseits darum, die Sattelfestigkeit der Informationen im Skript zu trainieren, andererseits um die glaubwürdige Darstellung der Rolle. Je mehr im Training schief läuft, desto mehr Feedback gibt es, und desto besser läuft es danach an der Prüfung.
Was, wenn ein Student eine Frage stellt, die nicht im Skript steht?
Ach, wir sind inzwischen recht gut vorbereitet auf die kreativen Fragen der Studenten. Im Skript sind alle wichtigen Informationen abgedeckt. Natürlich kommt es trotzdem immer zu unvorhergesehenen Fragen; hier sind die Schauspieler angewiesen, eine neutrale Antwort zu geben.
Kommt es manchmal vor, dass an Prüfungen trotzdem Patzer passieren?
Bei den Prüfungen sind unsere Standardpatienten so gut vorbereitet, dass kaum mehr Fehler passieren. Es kommt bei den Trainings vor, dass Schauspieler zu viel von sich aus erzählen. Die Kandidatinnen und Kandidaten jedoch müssen zeigen, dass sie bei der Vorgeschichte die entscheidenden Fragen stellen, und wenn ein Patient von sich aus das meiste erzählt, dann wertet der Prüfer das so, als hätte der Kandidat das erfragt. Disziplin ist also das wichtigste Merkmal eines SP. Ich sage den Interessenten immer schon beim Casting: Es geht hier nicht um Selbstdarstellung auf einer Bühne, es geht um ganz unspektakuläres und standardisiertes Auftreten. Wer eine Bühne mit klatschendem Publikum für herausragende Schauspielleistungen möchte, ist hier falsch.
Was sind die schwierigsten Rollen?
Vom Lernaufwand und schauspielerischen Können her wohl die psychiatrischen Rollen, diese Skripte sind sehr umfassend, zudem haben Schauspieler teilweise aus persönlichen Gründen Schwierigkeiten damit. Dann geben wir ihnen weniger belastende Rollen. Von unserer Seite her sind die Rollen am aufwendigsten, die ein Makeup verlangen, beispielsweise eine Hautveränderung, eine alte Operationsnarbe, etc. In Kursen lernen wir SP-Trainer das professionelle Schminken solcher Veränderungen.
Und was, wenn ein Schauspieler tatsächlich eine echte Narbe oder andere körperlichen Probleme hat?
Dann kommt er nicht in Frage für Rollen, wo der Student die Narbe sehen und aus ihr falsche Schlüsse ziehen könnte. Wir sind da strikt, es darf nicht sein, dass sich Schauspieler A in irgendeiner Form von Schauspieler B und C derselben Rolle unterscheidet. Oder von den Schauspieler-Pendants in Bern, Basel, Lausanne und Genf, die übrigens genau gleichzeitig genau dieselben Rollen spielen. Schweizweit sollen alle Staatsexamenskandidaten genau die gleiche Ausgangslage haben.
Was ist mit unangenehmen oder intimen körperlichen Untersuchungen?
Die bleiben den Schauspielern erspart, für Untersuchungen im Intimbereich verwenden wir Phantome, an denen sich jeweils auch die tatsächlichen Befunde ertasten lassen, zum Beispiel ein Knoten in der Brust oder Prostata. Ein bisschen etwas müssen unsere Schauspieler aber schon aushalten können – wenn einem 14 Studenten im Viertelstundentakt am Bauch herumdrücken, kann das gegen Ende hin manchmal schon ein bisschen unangenehm werden.