«Das ist meine letzte Option für eine Behandlung!» Andrea Müller (37) hat sich bereits am Moskauer Pigorov-Spital zur Behandlung angemeldet. Das Geld dafür muss sie noch im Internet sammeln.
Experten-Chat
Die Mutter zweier Kinder hat eine schwere Form von MS, bei der auch moderne Medikamente kaum helfen. Sie ist bereits auf den Rollstuhl angewiesen. Die Stammzelltransplantation in Moskau soll verhindern, dass ihre Behinderung auf Arme übergreift und sie demnächst im Pflegebett landet.
Das Zentrum in Moskau ist eines von rund 20 Zentren weltweit, das eine Behandlung anbietet, die MS stoppen kann. In den letzten zehn Jahren wurden in Moskau unter der Leitung des Hämatologen Denis Fedorenko schon 590 MS-Patienten behandelt, darunter 340 aus dem Ausland.
Er setzt dabei auf eine autologe Stammzelltransplantation (HSCT), die auch bei Blutkrebsarten wie Leukämie zum Einsatz kommt.
Heilsamer Neustart des Immunsystems
Bei diesem Verfahren wird das Immunsystem der MS-Kranken via Chemotherapie zerstört und anschliessend mit zuvor entnommenen eigenen Stammzellen wieder neu aufgebaut – eine Art Neustart des köpereigenen Abwehrsystems. Das neu aufgebaute Immunsystem greift im Gehirn die Nervenzellen nicht weiter an: Die MS wird so gestoppt. Vorbestehende Schäden an den Nervenbahnen bleiben aber bestehen.
Trotzdem hat sich für die 33jährige Annemieke De Kloe seit der Behandlung in Moskau vieles verbessert. «Puls» besuchte die Holländerin mit Schweizer Wurzeln fünf Monate nach der Stammzellbehandlung.
Während sie früher auf Rollator angewiesen war, kann sie wieder lange Strecken selbstständig gehen, sogar Skifahren ist wieder möglich.
Schweizer Neurologen sind uneins
Für den Zürcher Neurologieprofessor Roland Martin sind solche Resultate keine Überraschung. Er hält die Stammzelltherapie für die derzeit wirksamste Therapie bei aggressiven Krankheitsverläufen. Zusammen mit der Klinik für Hämatologie des USZ, die bei Krebspatienten seit 40 Jahren Stammzelltransplantationen vornimmt, würde Roland Martin in Zürich gerne ein Angebot auch für MS-Patienten lancieren.
Für 10 bis 20 Prozent aller MS-Patienten sei die Stammzelltransplantation eine gute oder bessere Alternative zu Medikamenten, so Roland Martin.
Andere Neurologen aber, wie der Basler Professor Ludwig Kappos, sind da deutlich skeptischer: Kappos hält die Stammzellbehandlung für riskant, da es bei der Chemotherapie auch zu Todesfällen kommen kann. Zudem sei die Wirksamkeit der Methode in Studien noch ungenügend belegt. Die bisher erschienen Studien sind laut Kappos zu klein und nicht genügend mit einem der wirksamen neuen Medikamente verglichen worden.
Der Expertenstreit wirkt sich möglicherweise auch auf die Zulassung aus. Auf der Liste der kassenpflichtigen Leistungen des Bundes ist die Stammzelltransplantation bei Autoimmunerkrankungen, wie MS, zwar aufgeführt. Bezahlen müssen die Kassen aber nur auf vorgängiges Gesuch und wenn die Behandlung im Rahmen einer Studie durchgeführt wird. Mangels Forschungsgeld kam in der Schweiz aber nie eine Studie zustande.
In Schweden offiziell verankert
- MS-Stammzellentherapie am Universitätsspital Zürich MS-Stammzellentherapie am Universitätsspital Zürich
- Stammzellforschung bei MS an der Universität Zürich Stammzellforschung bei MS an der Universität Zürich
- Stellungnahme der MS-Gesellschaft zur Stammzelltherapie Stellungnahme der MS-Gesellschaft zur Stammzelltherapie
- MS-Infoline 0844 674 636 MS-Infoline 0844 674 636
Weiter ist man in Schweden. Dort wurden an der Universität von Uppsala schon vor über 10 Jahren erste MS-Patienten so behandelt, ohne Todesfälle und mit grossem Erfolg. Mittlerweile hätten bereits 150 MS-Patienten die Behandlung durchlaufen, gab der schwedische Neurologe Joachim Burman auf Anfrage von «Puls» bekannt.
Zudem ist die Stammzellstransplantation seit Dezember 2016 auch fest in den nationalen Behandlungsrichtlinen der Multiplen Sklerose verankert und gilt damit nicht weiter als experimentelle Therapieform.
Ob und wann es in der Schweiz soweit kommt, ist noch offen. Das Bundesamt für Gesundheit BAG wartet bis Ende Jahr auf Eingaben zur Wirksamkeit und möchte anschliessend über eine allfällige definitive Zulassung entscheiden, sagte ein Sprecher gegenüber «Puls».
Patientinnen wie Andrea Müller können darauf aber nicht warten. Ihr Zustand verschlechtert sich von Monat zu Monat. Sie hat aus der Moskauer Klinik bereits einen Termin für den Sommer erhalten.