«Am Morgen, wenn ich aufstehe, klingt meine Stimme, wie bei einem schlechten Handy-Empfang». Esther Brechbühl lebt seit einem Jahr ohne gesunde Stimme.
Spricht sie, dann entsteht der Eindruck, als wäre sie in einer grossen emotionalen Krise: «Viele irritiert es, wenn sie mich das erste Mal hören», erzählt Esther. Am gravierendsten sei es am Telefon, weil dort der optische Eindruck fehle. «Weil die Stimme sehr weinerlich klingt, haben viele den Eindruck, das Telefonat käme in einem ungünstigen Moment.»
Esther Brechbühl kann sich schon fast nicht mehr an ihre alte Stimme erinnern. Damals, vor einem Jahr, wurde sie von Tag zu Tag schwächer. Die Sätze klangen immer abgehackter und kraftloser. Nicht wie sonst.
Sie dachte, das komme schon wieder in Ordnung und ignorierte ihre Stimme. «Dann fuhr ich ein paar Tage später im Auto nach Hause. Es lief ein Lied, bei dem ich mitsingen wollte. Doch ich merkte, ich kann überhaupt nicht mehr singen.»
Esther ging zu verschiedenen Ärzten. Nach diversen Abklärungen war klar: Sie leidet an einer spasmodischen Dysphonie. Ihr Nervensystem sendet willkürlich Signale an die Kehlkopf-Muskeln. Dadurch zucken die Stimmlippen. Die Folge: Ihre Stimme klingt abgehackt. Warum ihr Nervensystem solche Signale sendet, wissen die Expertinnen und Experten nicht. Wie viele Personen in der Schweiz von Stimmverlust betroffen sind, wird nicht erfasst. Eine spasmodische Dysphonie ist nicht heilbar.
Polizist ohne Stimmkraft
Markus Haller ist Fahndungsleiter bei der Kantonspolizei Aargau. Bei einer Operation an der Halswirbelsäule wurde eines seiner Stimmbänder verletzt. Die Folge: seine linke Stimmlippe war für immer gelähmt.
Markus Haller konnte nur noch Flüstern. Für den Polizisten, der in der Kommandozentrale Fahndungs-Einsätze via Funk leitete, eine Katastrophe.
«Via Funk kamen die Rückmeldungen von Kollegen: nicht verstanden, wiederholen. Dann habe ich den Befehl wiederholt. Noch immer nicht verstanden, wiederholen. Dann habe ich gemerkt: Jetzt bin ich am Anschlag.»
Markus Haller realisierte, wenn er als Fahndungsleiter, die Befehle mit zaghafter Stimme austeilt, glaubt niemand im Team an den Erfolg.
Markus Haller sorgte sich um seine Polizei-Karriere. Auch privat vermisste er seine Sprachkraft: «Was mir am meisten fehlte, war die Stimmung. Stimme hat ja mit Stimmung zu tun. Wenn ich mit meiner Frau redete, ob ich verärgert war, oder ihr lieb etwas sagen wollte, war das nicht mehr möglich. Es kam alles nur noch röchelnd von mir.»
Er konnte die Stimme nicht mehr modulieren, was für den Polizisten sehr speziell war. Schliesslich kommunizieren wir in Gesprächen oft auch nur mit der Tonlage. Bei Markus Haller war diese Komponente komplett ausgeschaltet.
Markus Haller hörte von einem Bekannten, dass Hyaluron-Injektionen bei Stimmband-Lähmungen helfen können. Doch er war skeptisch: «Mittel aus der Schönheitsindustrie sollen mir die Stimme zurückbringen?»
Auch Esther Brechbühl war zuerst kritisch gegenüber Botox. «Mich trieb vor allem die Frage um, wo sich das Mittel ansammelt, wenn es sich im Körper abbaut.» Doch Esther Brechbühl wusste: Bei einer spasmodischen Dysphonie ist die Botox-Injektion die einzige Behandlungsmethode, die tatsächlich hilft.
Nach reiflichen Überlegungen und Gesprächen mit dem behandelnden Arzt entschieden sich beide zur Stimmlippen-Operation am Universitätsspital Zürich.
Operation ohne Narkose
Phoniater Jörg Bohlender, leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie des Universitätsspitals Zürich, ist Spezialist auf diesem Gebiet. In Esthers Stimmlippen-Muskeln injizierte er Botolinumtoxin, im Volksmund: Botox.
Dieses Mittel lähmt gezielt die Stimmlippen-Muskeln. Diese schwingen nach einigen Tagen wieder gleichmässiger und ruhiger. In Folge klingt die Stimme entspannter und weniger verkrampft. Die Botox-Injektionen müssen wiederholt werden, da die Wirkung nachlässt und die Stimmkrämpfe langsam wieder auftreten. «Letztendlich wird nur das Symptom der Stimmstörung behandelt und nicht die Ursache», so der Stimmarzt.
In Markus Hallers gelähmte Stimmlippe spitzte Jörg Bohlender Hyaluronsäure. Die Lippe wird wie ein Pneu mit dem Füllmaterial aufgepumpt. Der Spalt zwischen den Stimmbändern schliesst wieder und die Stimme klingt satter und lauter. Die störende Luftnot beim Sprechen verschwindet.
Botox und Hyaluronsäure, Mittel aus der Schönheitsindustrie, zur Behandlung von Stimmstörungen? Das mag viele erstaunen: «Botox und Hyaluronsäure sind Mittel, die auch bei medizinischen Eingriffen sehr vielfältig eingesetzt werden», sagt Phoniater Jörg Bohlender. «Die hier angewandte ambulante Operationsmethode gibt es schon seit Anfang es 20. Jahrhunderts. Früher wurde jedoch bei einer Stimmlippen-Lähmung Paraffin, heisses Wachs, in die Stimmlippen gespritzt. Dank Hyaluron und den filigraneren High-Tech-Instrumenten kann die Operation heute ambulant und ohne Narkose durchgeführt werden.»
Vor der Operation erklärte Phoniater Jörg Bohlender den Patienten jeden einzelnen Schritt des Eingriffs. Damit der Würgereiz nachlässt, wird der Bereich im Rachen- und Halsraum betäubt. Auch wenn Esther Brechbühl genau wusste, was auf sie zukam, war sie nach der OP geschockt: „Im ersten Moment dachte ich, das mache ich nie wieder. Der Würgereiz war, trotz leichter Narkose, unglaublich schlimm.“ Stimm-Arzt Bohlender sagt: «In der Regel werden diese Prozeduren von einem Grossteil der Patientinnen und Patienten sehr gut toleriert.”»
Alternative zur Hyaluron-Injektion
Eine einseitige Stimmlippen-Lähmung kann zunächst auch mit Logopädie behandelt werden. Mit diversen, gezielten Stimmübungen soll ein physiologischer Stimmlippenschluss antrainiert werden. Diese Therapieform ist insgesamt zeitintensiv und nicht immer erfolgversprechend.
Ist der Abstand zwischen den Stimmlippen zu gross, nützt auch keine Logopädie. «Aktuell wird eine frühzeitige Operation mit Hyaluronsäure innerhalb von sechs Monaten empfohlen», sagt Phoniater Jörg Bohlender. «Weil die Patientinnen und Patienten ihre Stimme möglichst schnell wieder im Alltag brauchen und die Stimmverbesserung sogar dauerhaft anhält.»
Bringen Botox und Hyaluron die Stimme zurück?
Der Würgereiz und die Erstickungs-Ängste haben sich gelohnt. Der erste Satz am Tag nach dem Eingriff war für Markus Haller wie ein Geschenk: «Es war sensationell. Wenn man merkt, die Stimme kommt wieder zurück. Sie war nicht super stark am Anfang. Aber es war ein Riesenunterschied.»
Esther Brechbühl brauchte eine zweite Injektion. Die Botox-Dosis wurde angepasst. Die Veränderung nach dem ersten zum zweiten Eingriff ist heute deutlich hörbar.
Nach bald 1 ½ Jahren ohne Stimme ist Esther Brechbühl erleichtert und glücklich: «Es sind Welten dazwischen. Ich werde von Leuten angesprochen, die sagen: Hey, du hast deine Stimme wieder. So schön, dich zu hören. Das ist megaschön!»
Der Nachteil an der Behandlung mit Botox: Esther Brechbühl muss die unangenehme Operation alle drei bis vier Monate wiederholen. Denn, das Mittel aus der Schönheitsindustrie baut sich im Körper immer wieder ab. Markus Hallers Stimmband könnte in Zukunft auch ohne Hyaluron weiterschwingen. Das wird sich zeigen. Wenn nicht, muss auch er seine gelähmte Stimmlippe ein zweites Mal mit Hyaluron auffüllen.