Hier der «schwere Rote», der müde macht – da der «spritzige Weisse», der anregt. Die Vorstellung hält sich hartnäckig selbst in Köpfen von Menschen, die wenig oder gar keinen Wein trinken.
Auf Nachfrage meint der Basler Arzt Philipp Tschopp, dass er von vielen seiner Patienten tatsächlich höre, dass sie Wein so erleben. Wein enthalte immerhin rund 800 bis 900 verschiedene Substanzen: Eiweiss, Zucker, Säuren, Gerb- und Farbstoffe, Mineralstoffe, Spurenelemente, Aroma- und Bouqetstoffe – und natürlich Alkohol. Dass einige dieser Substanzen einschläfernd oder anregend wirken, sei durchaus möglich.
Bei der Forschungsanstalt Agroscope weiss man zwar von einer italienischen Studie aus Mailand, die besagt, dass die Trauben verschiedener bekannter Rotweinsorten wie Nebbiolo, Merlot oder Cabernet Sauvignon viel Melatonin enthalten. Ein US-Forscher hält dem allerdings entgegen, dass die Mailänder Kollegen da wohl nicht das echte «Schlafhormon» nachgewiesen hätten, sondern bloss auf eine ähnliche Substanz gestossen seien. Viele Wissenschaftler hätten schon versucht, Melatonin in Lebensmitteln nachzuweisen, seien aber daran gescheitert.
Unbestritten ist aber, dass Wein einen Einfluss auf unseren Organismus hat. Das liegt vor allem am Alkohol, der sowohl eine anregende als auch eine einschläfernde Wirkung haben kann.
Was man trinkt und wann man trinkt
Laut Agroscope hängen die verschiedenen Reaktionen auf Wein häufig auch mit dem Zeitpunkt und den Umständen des Konsums zusammen: Klassischerweise wird bei einer abendlichen Einladung zunächst ein Apéro mit etwas Weisswein eingenommen. Den Besuch tritt man fit, wach und hungrig an und fühlt sich vom «Weissen» entsprechend angeregt.
Zur Vorspeise wird dann erstmals Rotwein gereicht, der sich zum bereits eingenommenen Alkohol gesellt. Weitere Gläser «Roter» folgen bei der Hauptspeise, zu der es vielleicht noch etwas Salat gibt (der lange im Magen bleibt) und schliesslich noch ein Dessert.
Unsere Verdauung arbeitet da bereits auf Hochtouren – und das macht müde. Das Gefühl verbinden wir aber mit dem getrunkenen Rotwein. Naheliegenderweise, da sich der inzwischen auch als mehr oder minder ausgeprägter Schwips bemerkbar macht.