Stürze: Laut WHO sind sie nach Verkehrsunfällen weltweit die zweithäufigste Ursache für tödliche Unfälle. Dass mit zunehmendem Alter das Risiko steigt, das Gleichgewicht zu verlieren, dürfte vielen bekannt sein – doch das Ganze ist kein Senioren-Problem.
Zu langes Sitzen und zu wenig Bewegung führen nämlich auch bei jungen Menschen dazu, dass die Muskeln, die sie stabil auf den Beinen stehen lassen sollten, schwächer werden. Ihr Gleichgewicht, die Fähigkeit, den Körper in Balance zu halten, wird immer schlechter.
Einer Studie aus England zufolge schnitten Zehnjährige bei Gleichgewichtsübungen im Jahr 2014 um 20 Prozent schlechter ab als Gleichaltrige im Jahr 1994.
Auch die 20-Jährigen von heute stehen wackliger auf den Beinen, als sie sollten: Forschende der Winston-Salem State University fanden heraus, dass Millennials heute deutlich schwächer sind als die Erwachsenen der 1980er-Jahre. Das hat Folgen: Früher konzentrierte sich die Sturzforschung auf Menschen ab 65 Jahren. Heute gehts um die 50-Jährigen.
Dabei gibt es auch fernab der Sturzprophylaxe – ein Wort, das Millennials wohl schon beim Anblick in Schwindel versetzt – genug Gründe, unseren Gleichgewichtssinn zu trainieren.
1. Weil wir uns weniger verletzen
Das Offensichtlichste zuerst: Ein verbesserter Gleichgewichtssinn hat einen positiven Einfluss auf das Ausführen ganz unterschiedlicher Bewegungen. In erster Linie schult es unsere Balance und unsere Tiefenmuskulatur in Rücken und Rumpf. Das kann uns beim Joggen oder der Yoga-Session unter anderem vor Zerrungen bewahren, weil unsere Muskeln effizienter reagieren.
Was abstrakt klingt, lässt sich auf der Slackline wunderbar erleben: Beim ersten Mal auf dem Seil zittern die Beine wie verrückt und der Untergrund schwankt hin und her. Die Muskeln reagieren auf diese ungewohnte Belastung zu stark und verzögert.
Mit etwas Übung arbeiten die Beinmuskeln aber bald ganz ohne Wackelpudding: Angefangen bei den Füssen, federn die kleinen Muskeln um unsere Sehnen herum, den instabilen Bewegungsablauf besser ab.
2. Weil wir explosiver durchs Leben gehen
Auch unsere koordinativen Fähigkeiten (die für Bewegungen mit hoher Präzision, kurze Reaktionszeiten auf Signale und räumliche Orientierungsfähigkeit sorgen) und die Motorik profitieren.
Gerade die Motorik braucht unser Gehirn für Mehrfachbewegungen, wenn wir etwa während des Gehens unsere Nase putzen – etwas, das uns mit zunehmendem Alter schwerer fällt. Studien zeigen, dass sich diese Fähigkeiten mithilfe von Balanceübungen verbessern.
Aber auch Menschen, die auf mehr sportliche Action als Naseputzen stehen, profitieren davon: Durchs Gleichgewichtstraining werden ganz besonders die Sprungkraft und die sogenannte «Explosivkraft» verbessert, die beispielsweise dafür sorgt, dass wir einem Hindernis schnell ausweichen können. Gerade bei Ballsportarten verringert sich so das Verletzungsrisiko.
3. Weil sich unsere Konzentrations- und Lernfähigkeit verbessert
Forschende haben herausgefunden: Kognitive Aufgaben werden schlechter gelöst, wenn man dabei auf das Gleichgewicht achten muss. Löst man kognitiv anspruchsvolle Aufgaben, kann man schlechter balancieren.
Es besteht also eine direkte Verbindung zwischen unseren kognitiven Fähigkeiten und der Balance, wie auch eine Studie von 2012 aus Deutschland zeigt: Kinder mit einem gut ausgeprägten Gleichgewichtssinn schnitten in der Schule deutlich besser ab als Schülerinnen und Schüler mit schlechter Balance. Aber: Durch gezieltes Balancetraining konnten die Kinder ihre Leistungen in Schreiben, Rechnen und Lesen signifikant steigern.
4. Weil Psyche und Gleichgewicht in Verbindung stehen
Aber nicht körperlich spielt das Gleichgewicht eine wichtige Rolle: Studien belegen, dass psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und Schizophrenie die Gleichgewichtsfähigkeit beeinträchtigen.
Einen Beleg dafür liefert die Studie, die der Neuropsychologe Ron Feldman von der Tel Aviv University mit depressiven Menschen durchgeführt hat: Er konnte zeigen, dass Menschen mit Depressionen zu einer gebückteren Körperhaltung neigen und sich oft deutlich langsamer bewegen. Wenn sie stolpern, ist das Risiko höher, dass sie die notwendigen Ausgleichsbewegungen zu langsam ausführen.
Was bleibt, ist jedoch die Frage, was zuerst war: die Gleichgewichtsprobleme oder die psychischen Erkrankungen. Doch dass körperliche Symptome bei der Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht direkt eingebunden werden, sei eine vertane Chance, sagt Ron Feldman gegenüber dem Magazin «Spektrum».
Der Zusammenhang zwischen Gleichgewicht und psychischer Gesundheit liesse sich nämlich möglicherweise auf positive Art nutzen: Körperliches Gleichgewichtstraining könnte auch der psychischen Gesundheit zugutekommen, da ist sich der Neuropsychologe sicher.
Drei einfache Übungen für zu Hause
- Der Einbeinstand trainiert die Stabilisierung des Körperschwerpunkts. Regelmässig auf einem Bein stehen – zum Beispiel beim Zähneputzen oder beim Telefonieren. Steigerungsform: Das andere Bein abwinkeln und nach vorne oder seitlich bewegen. Weitere Steigerung: Die Augen schliessen.
- Lunges (Ausfallschritte) trainieren das seitliche Gleichgewicht und die Kraft. Gerade stehen, dann mit einem Fuss einen Ausfallschritt nach vorne machen und das andere Knie bis kurz über Boden senken. Oberkörper möglichst aufrecht halten. Kurz in der vorderen Position bleiben, zur Ausgangsposition zurückkehren und mit dem anderen Bein wiederholen. Tipp: Beim Niederknien ausatmen, beim Aufstehen einatmen.
- Der Tandem-Gang hilft, die Sturzgefahr beim Laufen zu minimieren. Beim Gehen die Ferse des einen Fusses immer direkt vor die Spitze des anderen setzen. Steigerungsform: Die Augen schliessen oder den Kopf schütteln.
Steigerungsmöglichkeit für alle drei Übungen: Statt auf festem Boden auf Polstern, Kissen oder einem anderen weniger stabilisierenden Untergrund stehen.