Vor sieben Jahren hat ein Ereignis meinen Alltag für immer verändert: Ich hatte einen verheerenden Bandscheibenvorfall. Ein unerträglicher Schmerz schoss durch mein Bein bis in den Fuss, weil mein Nerv durch ausgelaufene Bandscheibenflüssigkeit abgedrückt wurde. Innerhalb von 24 Stunden mutierte ich von einem normal gehenden Menschen zur Schmerzpatientin.
Schmerz verändert das Leben
Zwar wurde ich innerhalb von Stunden notoperiert, aber der Schaden am Nerv war angerichtet. Heute spüre ich mein Bein zum grossen Teil wieder. Aber auch die Schmerzen, die mein kaputter Nerv verursacht, spüre ich sehr deutlich.
Man nennt das «Missempfindung». Ich habe sie jeden Tag und vor allem in der Nacht. Natürlich nehme ich Medikamente, die aber schwere Nebenwirkungen haben, zum Beispiel Müdigkeit und Schwindel.
Leben lernen mit chronischem Schmerz
Irgendwie habe ich mich mit meinen chronischen Schmerzen arrangiert. Ich lasse mir meine Schuhe manipulieren und kann wieder einigermassen normal gehen. Meine geliebten Stöckelschuhe warten zwar immer noch in einer Kiste im Keller auf eine (unwahrscheinliche) massive Regeneration und vom Skifahren träume ich nur noch. Aber das sind Einschränkungen, mit denen man sehr gut leben kann. Kein Zweifel, es gibt Schlimmeres.
Doch nur, weil man Strategien gefunden hat, mit der Situation umzugehen, heisst das nicht, dass alles in Ordnung ist. Die Suche nach Besserung gehört zu meinem Alltag wie der Schmerz – auch die Suche nach Alternativen zu den Schmerzmedikamenten mit weniger starken Nebenwirkungen.
Das Cannabis-Dilemma
Cannabis könnte eine Alternative für mich sein. Als Ersatz für das Antiepileptikum, das ich nehme und das bezüglich Suchtrisiko keinen guten Ruf hat. Laut Bundesamt für Gesundheit gibt es genügend Studienhinweise, dass Cannabis als Medikament bei neuropathischen Schmerzen wie meinen hilft.
Nicht, dass mir jemals ein Arzt Cannabis empfohlen hätte. Dafür wiederum hat die Studienlage zu wenig Evidenz erbracht. Es gibt zwar Ärzte und Ärztinnen in der Schweiz, die sich für Cannabis in der Medizin einsetzen. Aber auch sie sprechen vom sogenannten «Cannabis-Dilemma»: Die klinischen Studienergebnisse spiegeln nicht die vielen Einzelfälle wider, bei denen Cannabis hilft.
Nur wenige Ärzte in der Schweiz kennen sich gut aus mit der medizinischen Wirkung von Cannabis. Zudem gilt das Kraut im Moment noch als illegale Droge und kann nur mit einer Sonderbewilligung vom Bundesamt für Gesundheit bezogen werden. Kurz: Es gibt wohl nur wenige Ärztinnen und Ärzte, die Cannabis als Alternative vorschlagen.
Mit Cannabis kennen sich viele Ärzte nicht aus
Also mache ich mich auf die Suche nach einem Arzt, der für mich eine Sonderbewilligung beim Bundesamt für Gesundheit beantragt und bin erstaunt, wie schwierig das ist. Mein Hausarzt weist mich rasch an eine Kollegin weiter, die ebenfalls abwinkt.
Nach vielen Telefonaten finde ich endlich einen Schmerzspezialisten in Zürich, der bereit ist, einerseits zu schauen, ob ich eine geeignete Kandidatin für Cannabis bin und andererseits den Papierkrieg zu übernehmen, den eine Sonderbewilligung mit sich bringt. Ich war mir sicher, der Indikation zu entsprechen. An eine Sonderbewilligung kam ich trotzdem nicht.
Nicht austherapiert
Bevor eine Patientin Cannabis ausprobieren darf, muss sie austherapiert sein. Und das bin ich – zu meiner Überraschung – nicht. «Sie haben noch eine andere Medikationsmöglichkeit, bei der die Wahrscheinlichkeit für eine Wirkung grösser ist als bei Cannabis: Antidepressiva», so der Schmerzspezialist. «Nebst Antiepileptika sind Antidepressiva die Medikamentengruppe, die neuropathische Schmerzen gemäss klinischen Studien mit gutem Erfolg lindern.»
Bevor ich diese Medikamentengruppe nicht ausprobiert hätte, würde er mir Cannabis nicht empfehlen. Ausserdem sei Cannabis ein kompliziertes Medikament: Man dürfe damit nicht Auto fahren oder es ins Ausland mitnehmen. Für eine Journalistin wie mich vielleicht weniger geeignet. Obwohl ich seine Einwände verstehe, habe ich doch wenig Lust, ein Antidepressivum auszuprobieren.
Ich war mir sicher, der Indikation zu entsprechen. An eine Sonderbewilligung kam ich trotzdem nicht.
Zudem bin ich irritiert: Man hatte mir gesagt, es sei heutzutage einfach, an eine Sonderbewilligung für Cannabis heranzukommen. Ich hingegen habe es nicht einmal zum Ausfüllen des Formulars gebracht. Ich treffe mich mit jemandem, der selber Cannabis gegen seine Multiple Sklerose nimmt und sich für den legalen Einsatz von medizinischem Cannabis einsetzt.
Ein Joint ist billiger
«Das, was du da erlebst, geht vielen Patienten und Patientinnen so», meint Simon Winistörfer, Vizepräsident des «Vereins Medical Cannabis Schweiz» (MEDCAN). «Austherapiert sein müssen, ist ein grosses Problem. Vor allem für die Patienten, die Cannabis schon lange erfolgreich anwenden und keine Lust haben, zuerst noch schwere Medikamente wie zum Beispiel Opiate nehmen zu müssen.» Das sei auch ein Grund dafür, warum sich in der Schweiz geschätzt 100’000 Patientinnen und Patienten selber mit Cannabis therapieren, ohne ärztliche Begleitung.
Viele Menschen – mit chronischen Schmerzen, Multipler Sklerose, Tumorschmerzen, Neuropathien, Spastiken, Bewegungsstörungen, Migräne und anderen Indikationen – benutzen kein medizinisches THC, sondern besorgen sich Cannabis auf dem Schwarzmarkt. Sie rauchen es, oder lassen sich Extrakte machen.
Das ist nicht unproblematisch, denn Cannabis vom Schwarzmarkt kann gepanscht oder verunreinigt sein. «Viele Patienten bauen deshalb Cannabis selber an oder besorgen es sich im persönlichen Umfeld», so Winistörfer. Dazu kommt: Das illegal besorgte Cannabis ist massiv günstiger als die THC-Öle und -Tinkturen, die man in der Schweiz erhält. Der Schweizer Markt ist auch hier massiv teurer als zum Beispiel der deutsche oder österreichische.
Die Cannabis-Renaissance
Die Zahl der 100'000 Menschen, die sich selber illegal therapieren, stammt übrigens vom Bundesamt für Gesundheit. Dort ist man sich der Situation bewusst. Nicht zuletzt, weil die rund 2000 Sonderbewilligungen, die das BAG pro Jahr ausstellt, mit einer «Sonderbewilligung» nicht mehr viel zu tun haben.
Dass sich der Umgang mit medizinischem Cannabis ändern muss, ist derweil beschlossene Sache: Letztes Jahr sorgte eine Gesetzesänderung dafür, dass Cannabis als Medikament nicht mehr als illegale Droge gehandhabt wird, sondern als rezeptpflichtiges Betäubungsmittel, das jeder Arzt ohne Sonderbewilligung verschreiben kann. Ab Spätsommer 2022 soll die Gesetzesänderung in Kraft treten.
Künftig soll der Arzt entscheiden
Ich will wissen, ob es für mich ab Spätsommer leichter sein wird, ein Cannabismedikament zu beziehen. Adrian Gschwend, Leiter Sektion Politische Grundlagen und Vollzug des BAG in Bern, bestätigt mir, dass man in Zukunft nicht mehr austherapiert sein muss: «Das Ziel ist, dass diese Entscheidung zurück zum Arzt oder zur Ärztin geht und sich der Staat da vollkommen raushält. Wobei natürlich die Sorgfaltspflicht gilt.»
Der Zugang für Patienten und Patientinnen, die Cannabis ausprobieren wollen, wird also tatsächlich vereinfacht. Vieles wird trotzdem beim Alten bleiben. Zum Beispiel die fehlende Übernahme von Cannabis durch die Krankenkasse. Im Moment gilt keine Übernahmepflicht und weil die Medikamente sehr teuer sind, lehnen viele Krankenkassen eine Kostengutsprache ab. Erst wenn die Studienlage die Evidenz von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit belegt, würde eine Kostenübernahme möglich. Kurzfristig wird das nicht erreichbar sein – ich erinnere an das oben erwähnte Cannabis-Dilemma.
Es wird einfacher – aber nicht leicht
Für Patienten, die bereits ein Cannabis-Medikament beziehen, ändert sich mit der Umsetzung der Gesetzesänderung nur wenig. Auch dass es in Zukunft in der Schweiz legal sein wird, ein meist günstigeres Cannabis-Medikament aus dem Ausland online mit der Post nach Hause zu bestellen, bringt nur wenig.
Das macht mir eine Apotheke in Wien klar: «Leider ist es uns nicht möglich, Cannabis-Medikamente ins Ausland zu verschicken! Da es sich in Österreich um ein Suchtgift handelt, benötigen wir für eine Abgabe ein österreichisches Suchtgiftrezept, welches auch in Österreich abgeholt werden muss.»
Für Patienten und Patientinnen, die neu Cannabis als Medikament ausprobieren wollen, wird es ab August 2022 wahrscheinlich einfacher werden. Sollte allerdings der Sonderbewilligungspapierkrieg einfach durch einen Meldepflichtpapierkrieg ersetzt werden, um mehr Daten zu erhalten, dann werden die Ärzte und Ärztinnen wohl auch in Zukunft wenig Lust auf die Verschreibung von Cannabis verspüren. Vielleicht sollte ich doch mal zu den Antidepressiva greifen.