«Ich habe mir immer selber die Schuld gegeben und gedacht, ich komme einfach nicht in die Gänge. Und ich habe mich ständig gefragt, was ich um Himmels willen falsch mache!»
Pierette Sahins Leben ist seit zwei Jahren von quälender Müdigkeit und Erschöpfung geprägt, die sie mehrmals am Tag einfach überwältigt. «Da bin ich an etwas dran im Haushalt und plötzlich bin ich todmüde. Dann muss ich alles stehen lassen und mich hinlegen. Kann einfach eine Stunde, neunzig Minuten lang nicht mehr das Geringste tun.»
Dabei sollte die 48-Jährige längst gesund sein und wieder aktiv am Leben teilhaben können. Nach überstandener Brustkrebstherapie mit Chemotherapien, Bluttransfusionen und einer Operation, bei der ihr beide Brüste entfernt wurden.
Doch auf den Sieg über den Krebs folgte keine neue Lebenslust. Stattdessen eine ständige Erschöpfung, die sie Konzentrationsfähigkeit, Unternehmungslust und schliesslich auch den Job kostete.
Fatigue nach Krebs nicht ungewöhnlich
Fatigue als Begleiterscheinung während der Krebstherapie ist bekannt: Neun von zehn Patienten leiden daran. Sechs Monate nach Therapieende sollte sie wieder abklingen – bei manchen bleibt die quälende Müdigkeit aber bestehen und hindert sie hartnäckig daran, ihr normales Leben wieder aufzunehmen.
Vielen Betroffenen ist dabei überhaupt nicht klar, dass sie an einem chronischen Fatiguesyndrom leiden, das durch die überstandene Krebstherapie selber ausgelöst wurde. Also durch Chemotherapie, Immuntherapie, Radiotherapie, nuklearmedizinische Therapien oder operative Eingriffe.
«Der Fachbegriff dafür lautet ‹Krebstherapie-induzierte Fatigue›», erklärt Raphael Jeker, der am Kantonsspital Graubünden eine Anlaufstelle für Patienten mit unklaren Diagnosen aufgebaut hat. «Gut die Hälfte erlebt einen milden Verlauf. War die Therapie aber intensiv, entwickeln 15 bis 20 Prozent schwerwiegende, belastende Symptome», weiss der stellvertretende Chefarzt.
Vielen Ärzten ist dieser Zusammenhang aber nicht bewusst. Da herrsche die Meinung vor, dass das eben zur Krankheit gehört und dann schon irgendwann wieder besser werde.
Was eben nicht der Fall ist. Wie bei Pierette Sahin, die mit den Folgen ihrer Krebstherapie sich selbst überlassen blieb und zwei Jahre lang in ein tiefes Loch fiel. Aus dem kämpft sie sich nun mühsam wieder heraus.
Solches passiert viel zu oft, ist Sarah Stoll von der Krebsliga Ostschweiz überzeugt. Denn: «Es wird zu wenig informiert, was nach dem Abschluss der Behandlung passieren kann. Und es wird auch zu wenig nachgefragt.»
Stattdessen müssten die Patientinnen und Patienten früh ins Bild gesetzt werden, dass diese Phänomene und Symptome keineswegs ungewöhnlich sind – und an wen sie sich wenden können, um ambulante oder stationäre Hilfe zu bekommen.
Müde ohne ersichtlichen Grund
Die Gründe für ein derart schwerwiegendes Problem zu kennen, ist ein schwacher Trost. Protazy Rejmer bleibt selbst dies versagt.
Seit seinem 14. Lebensjahr leidet er nach einer Lungenentzündung am chronischen Erschöpfungssyndrom. Der Zuger hat schon alles versucht, um wieder gesund zu werden.
Wirklich alles.
Nachdem die volle Bandbreite konventioneller medizinischer Abklärungen keine greifbaren Ergebnisse gebracht hatte, wandte er sich alternativen Therapien zu. Und schreckte schliesslich in seiner Verzweiflung nicht einmal vor einem Exorzismus zurück.
«Ich bin Wissenschaftler, aber damals habe ich alles versucht», erzählt Protazy Rejmer lächelnd seine Lieblingsanekdote aus jener Zeit. «Ich dachte: Warum nicht?»
Der Betroffene wurde selber Arzt. Allen Problemen zum Trotz konnte er sein Medizinstudium beenden und betreut aktuell rund 40 Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom. Neue Fälle werden stets ganz klassisch auf körperliche Ursachen abgeklärt: Anamnese, Blutuntersuchungen, Blutdruckkontrolle im Liegen und Stehen... Untersuchungen, die bei Protazy Rejmer zwei Jahrzehnte lang nichts Greifbares ergeben hatten. «Am Ende hiess es immer, ich bilde mir das nur ein.»
Bis er vor einigen Jahren in der Klinik, in der er arbeitete, seine Krankheit mit Stresstests untersuchte. Und sein Chef zum Schluss kam, dass er ein Sonderfall sei. «Ich verbrauchte weniger Sauerstoff, wenn ich mich anstrengte, als wenn ich still sass!» Genau das Gegenteil dessen, was bei einem gesunden Menschen der Fall ist. «Das war der wichtigste Tag in meinem Leben. Ich habe in Gegenwart meines Chefs geweint.»
Stets hatte Protazy Rejmer zu hören bekommen, dass er in der einen oder anderen Weise psychisch betroffen sei oder seinen Alltag einfach nicht bewältigen könne. Und dann dies: Ein handfestes organisches Symptom!
Jetzt macht Rejmer in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich eine Langzeitstudie mit Schweizer Patienten. Er möchte endlich körperlich nachweisbare Veränderungen bei seinen Leidensgenossen finden.
Und er macht allen Mut, die sich in ihrem Leid und ihrer Verzweiflung mit Suizidgedanken tragen: «Gerade jetzt dürfen wir nicht aufgeben – vor allem nicht jetzt. Es gibt eine Menge Veränderungen in der Politik, in der Wissenschaft, in der Medizin. Und es gibt immer mehr Entdeckungen. Es wird besser werden. Jetzt haben wir eine Chance, und es ist gut, dafür zu kämpfen!»
Puls, 24.02.2016, 21:05 Uhr