Zum Inhalt springen

Volkskrankheit Stress Wenn Manager meditieren: Achtsamkeit erobert die Wirtschaft

Stress macht krank – auch am Arbeitsplatz. Einige Unternehmen lassen ihre Mitarbeitenden daher meditieren. Bringt's das?

Still werden, tief durchatmen, im Hier und Jetzt ankommen – beim Stromanbieter Axpo in Baden treffen sich jeden Donnerstagmittag Mitarbeitende aus den verschiedensten Bereichen in einem Sitzungszimmer, um miteinander eine halbe Stunde lang zu meditieren.

«Ich habe das vor drei Monaten entdeckt», erzählt einer der Teilnehmer. «Es ist eine gute Möglichkeit, zur inneren Ruhe zu kommen und Probleme aus einer gewissen Distanz zu betrachten.»

Rund ein Duzend Menschen sitzen mit geschlossenen Augen um einen ovalen Tisch.
Legende: Meditation statt Mittagessen: Jeden Donnerstag üben sich Axpo-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in Achtsamkeit. SRF

Was hier praktiziert wird, ist Achtsamkeit. Eine ursprünglich buddhistische Meditation, die sich in ihrer säkularisierten Form seit einigen Jahren zum Megatrend entwickelt. Und eine Form, der auch Wirtschaftsunternehmen mit immer grösserem Interesse begegnen.

Google, Daimler, Roche machen mit

Internationale Grossunternehmen wie Google, SAP oder Daimler haben die Methode in ihr Mitarbeiterangebot integriert. In der Schweiz sind es Firmen wie Julius Bär, Swisscom oder Helsana.

Denn die Achtsamkeitsmeditation birgt ein verlockendes Versprechen: weniger gestresste Mitarbeiter, höhere Konzentrationsfähigkeit und bessere Leistungsfähigkeit.

Jeder Vierte hat Stress am Arbeitsplatz

Mit ruhigem und konzentriertem Arbeiten hat der Alltag der meisten Erwerbstätigen heute nicht mehr viel zu tun. Da sieht es eher so aus: Das E-Mail ist immer noch nicht abgeschickt, da klingelt schon wieder das Telefon. Der Lärmpegel im Grossraumbüro ist oft unerträglich. Und die Präsentation, für die es wahrscheinlich mal wieder kein Wort der Anerkennung gibt, muss unbedingt fertig werden.

In der Schweiz geben etwa 25 Prozent der Erwerbstätigen an, häufig oder immer Stress bei der Arbeit zu haben. Genauso viele fühlen sich erschöpft. Muskelverspannungen, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Übergewicht sind typische Folgen. Auch Depressionen und Angstzustände werden immer häufiger diagnostiziert, und die Kliniken behandeln mehr und mehr Burnout-Patienten.

Der Volkswirtschaft gehen durch Krankschreibungen jedes Jahr Millionen verloren. Stress gilt mittlerweile als Volkskrankheit.

8-Stunden-Tag? Für viele unvorstellbar

«Die Belastung hat in den letzten Jahren zugenommen», bestätigt Georg Bauer, Leiter der Abteilung Gesundheitsforschung und betriebliches Gesundheitsmanagement an der Universität Zürich. Vor allem durch die Digitalisierung habe sich unsere Arbeitswelt rasant verändert.

Für die Ewigkeit geglaubte Unternehmen verschwinden heute von einem auf den anderen Tag. Die elektronischen Medien verdammen uns zu einer ständigen Erreichbarkeit und setzen uns einer kaum zu bewältigenden Datenflut aus.

Die Wertschätzung durch den Chef oder die Kollegen bleibt in der Hektik als erstes auf der Strecke.
Autor: Georg Bauer Arbeitspsychologe

In vielen Jobs werden die Aufgaben immer komplexer und die Selbstbestimmung immer reduzierter. Einen 8-Stunden-Tag können sich vor allem im Management viele gar nicht mehr vorstellen.

Zurück bleiben Mitarbeiter, die überfordert sind und keine Unterstützung mehr haben: Wertschätzung durch den Chef, die Chefin oder die Kollegen bleibe in der Hektik als erstes auf der Strecke, so Georg Bauer.

Das Tier in unserem Hirn

Warum diese Arbeitswelt so viele Menschen kaputt macht, zeigt ein Blick in unseren Kopf. Hier beginnt schon beim Gedanken an den übervollen Terminkalender oder die unangenehme Besprechung ein mandelgrosser Bereich in unserem Grosshirn wie wild zu arbeiten: die Amygdala. Sie ist wie ein Fühler, der alles registriert, was mit Emotionen, Angst und Gefahren zu tun hat – also auch den Stress.

Schema des Gehirns mit der Amygdala als roten Punkt.
Legende: Dieser kleine Bereich im Hirn ist unser Fühler für alles, was stressig ist: die Amygdala. Imago

Dieses System funktioniert seit Urzeiten, denn Stress gab es schon immer. Nur war er früher ein anderer: Standen unserer Vorfahren plötzlich einem Säbelzahntiger gegenüber, gab es nur eins: Kämpfen oder Fliehen.

Der Körper mobilisiert alle Kräfte

Die Amygdala sorgt in solchen Fällen dafür, dass unsere Nebenniere Stresshormone freisetzt, vor allem Kortisol und Adrenalin. Die Auswirkungen sind sofort zu spüren:

Video
Noch heute grüsst der Säbelzahntiger: Was im Körper passiert, wenn wir Stress haben
Aus Kultur Extras vom 15.03.2018.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 12 Sekunden.

«Der Blutdruck steigt, damit das Blut schneller durch den Körper fliesst. Die Bronchien erweitern sich, damit mehr Sauerstoff aufgenommen wird und in die Muskeln und das Gehirn gelangen kann. Gleichzeitig werden das Immunsystem und das Schmerzempfinden kurzzeitig unterdrückt», erklärt der Basler Neuropsychologe und Stressforscher Pasquale Calabrese.

Sobald unseren Vorfahren die Flucht gelungen oder das Tier erledigt war, fuhr der Körper die Hormonproduktion wieder runter.

Wir können nicht mehr fliehen

Evolutionär stehen wir noch immer jedes Mal, wenn wir Stress haben, diesem Säbelzahntiger gegenüber. Nur können wir nicht mehr fliehen – unser Körper bleibt im ständigen Kampfmodus.

Wenn wir bei der Arbeit unter Druck stehen, führt irgendwann schon nur das Denken daran dazu, dass wir Schweissausbrüche bekommen.
Autor: Pasquale Calabrese Stressforscher

Noch dazu reagieren wir nicht nur auf akuten Stress: «Wenn wir bei der Arbeit unter Druck stehen, führt irgendwann schon nur das Denken an diese Situation dazu, dass wir Herzklopfen, Schweissausbrüche, hohen Blutdruck oder Muskelverspannungen bekommen», sagt Stressforscher Calabrese.

Das Stress-Alarmsystem kommt so nicht mehr zur Ruhe. Wird Kortisol aber dauerhaft ausgeschüttet, macht es krank: Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes oder Depression sind typische Folgen. An Burnout Erkrankte sind schliesslich überhaupt nicht mehr in der Lage, ihren Körper herunterzufahren.

Stressbewältigung durch Achtsamkeit

Solchen Folgen wollte Angelika von der Assen entgegenwirken. Sie verantwortet bei der Axpo das Leadership Development. Irgendwann hatte sie genug von den Management-Methoden der westlichen Psychologie, die ihrer Meinung nach oft viel zu kurz greifen.

«Dort geht es meistens um die Verhaltensebene: Wie verhalte ich mich in welcher Situation – und dann arbeite ich das ab», sagt die energische Norddeutsche. «Aber das hilft nicht mehr, um den Wahnsinn der heutigen Komplexität zu bewältigen. Es braucht etwas qualitativ Neues.»

Also brachte sie die Achtsamkeit ins Unternehmen. Ganz vorsichtig erst, denn Meditation stand bis vor Kurzem nicht unbedingt im Ruf, wirtschaftsfördernd zu sein. Doch es gab einen Türöffner: die Wissenschaft.

Die westliche Psychologie hilft nicht mehr, um den Wahnsinn der heutigen Komplexität zu bewältigen.
Autor: Angelika von der Assen Achtsamkeitstrainerin

«Man kann heute nachweisen, dass wir mit Meditation die Hirnareale positiv verändern, die für emotionale Ausgeglichenheit, grössere Klarheit, kluge Entscheidungen zuständig sind», so von der Assen.

Wenn sie diese Erkenntnisse in ihren Kursen vorstelle, seien die Ingenieure und Manager gleich viel aufgeschlossener. «Ah, das ist gar keine Esoterik – das ist ja wissenschaftlich erforscht!»

Das Sorgenkarussell stoppen

Seit vier Jahren können bei der Axpo vom Kraftwerksingenieur über die Stromhändlerin bis zum Divisionsleiter interessierte Mitarbeitende Achtsamkeit lernen.

Das Kernangebot ist ein mehrwöchiger Kurs, in dem die Teilnehmenden kurze Meditationsübungen lernen, die sich für den Arbeitsplatz eignen. Während der Ausbildung wird jeden Tag mindestens 15 Minuten geübt. Danach können alle für sich entscheiden, ob sie dran bleiben wollen – und beispielsweise an der Meditationsrunde am Donnerstag teilnehmen.

Der «Erfinder» der Achtsamkeit

Box aufklappen Box zuklappen

Ermöglicht hat den Achtsamkeits-Boom der US-amerikanische Mikrobiologe Jon Kabat-Zin. Er löste die buddhistische Meditationsform von ihrem spirituellen Hintergrund und entwickelte Ende der 1970er-Jahre ein achtwöchiges Programm, das Stress- und Schmerzpatienten helfen sollte: MBSR – Mindful Based Stress Reduktion (Mindfulness ist der englische Begriff für Achtsamkeit). Heute wird MBSR weltweit in hunderten Klinikprogrammen angewendet. Auch in der Schweiz basieren fast alle Behandlung darauf.

Im Wesentlichen geht es bei Achtsamkeit darum, in jeder Situation ganz präsent zu sein. Nicht an das E-Mail von vorhin zu denken und auch nicht an die Sitzung später. Das ist nicht so einfach, es muss geübt werden. Dabei hilft, sich nur aufs Atmen zu konzentrieren, um das Sorgenkarussell endlich mal zum Schweigen zu bringen.

Durch Achtsamkeit entsteht eine neue Art von Aufmerksamkeit und Bewusstsein.
Autor: Angelika von der Assen Achtsamkeitstrainerin

Ist das Kopfkino erst einmal abgeschaltet, kommt auch unsere Amygdala schneller zur Ruhe und wir fühlen uns nicht mehr so ausgeliefert. Statt mit Angst an den nächsten Termin zu denken, lernen die Teilnehmer, ihre Gefühle zu beobachten, ohne sie sofort zu bewerten. Das soll ihnen helfen, aus typischen Reaktionsmustern auszubrechen – oder eine unangenehme Situation auch einfach mal hinzunehmen.

Unvoreingenommen, offen und kreativ

«Durch Achtsamkeit entsteht eine neue Art von Aufmerksamkeit und Bewusstsein», sagt Kursleiterin von der Assen. «Wenn ich so in eine Sitzung gehe, tue ich das auf eine unvoreingenommene und offene Art und bin voll präsent. Wenn ich mit dieser Präsenz an Probleme herangehe, kann ich sie auf neue, kreative Art lösen».

Angelika von der Assen sitzt mit geschlossenen Augen neben Mitarbeitern beim Meditieren.
Legende: Achtsamkeitstrainerin Angelika von der Assen leitet die Meditationsübungen bei der Axpo. SRF

Die Axpo richtet ihr Achtsamkeitsprogramm gezielt an die Führungskräfte, damit sie die Erkenntnisse auch in ihre Teams tragen können. Einige, so Angelika von der Assen, würden mittlerweile ihre Meetings mit einer Achtsamkeitsübung beginnen.

Spätestens hier blitzen sie dann doch auf, die grossen Fragen: Wird hier nicht zu viel in die Meditation hineingehofft? Kann sie funktionieren als Allheilmittel in unserer immer hektischer werdenden Gesellschaft? Und – ist der eigentliche Sinn von Meditation nicht das Gegenteil von Leistungsfähigkeit, nämlich Absichtslosigkeit?

Oft zu leuchtend dargestellt

Studien zur Achtsamkeit und Meditation gibt es inzwischen hunderte – nicht alle sind methodisch einwandfrei, dennoch gibt es ein Fazit:

«Meditation wirkt am besten bei der Reduktion von Stress und Schmerz», sagt die Neurowissenschaftlerin Marieke van Vugt, die an der Universität Groningen in den Niederlanden zur Meditation forscht. Wichtig war bei diesem Ergebnis, dass die Probanden wirklich regelmässig meditierten.

Eine Diagramm zeigt den stetigen Anstieg der Anzahl von Studien zum Thema Meditation
Legende: Die Anzahl der Meditations-Studien explodierte: In vielen konnten positive Effekte auf das Gehirn nachgewiesen werden. SRF

Anders sieht es aus, wenn es um die Frage geht, ob Meditation auch die Konzentration und Gedächtnisleistung erhöht. «Da muss man sagen, dass es noch keine starken Beweise dafür gibt», so die Wissenschaftlerin. Sie praktiziert selbst seit Jahren Achtsamkeit und stellt fest: «Oft werden die Auswirkungen zu leuchtend dargestellt.»

Besser das als nichts

«Besser, die Menschen machen dies, als überhaupt nichts», ist der pragmatische Schluss des Walliser Jesuiten und Zen-Meisters Niklaus Brantschen: Globalisierung und Digitalisierung, die Informationsflut und Unbeständigkeit, sie werden nicht einfach verschwinden. Besser also, der Mensch passt sich an, als dass er vor die Hunde geht.

Niklaus Brantschen weiss, wovon er spricht: Die Zen-Meditation – eine Sitzmeditation, in deren Zentrum die Stille und das Atmen stehen – ist das Original, aus dem die Achtsamkeit entwickelt wurde. Immer wieder trifft er Leute, die erst durch die Achtsamkeitsübungen auf Meditation aufmerksam wurden und dann tiefer nach mehr suchten.

Besser, die Menschen machen dies, als überhaupt nichts.
Autor: Niklaus Brantschen Zen-Meister

Brantschen ist Mitbegründer des Schweizer Lassalle-Instituts. Es ist ein Kompetenzzentrum für Spiritualität, das neben Einführungen in die Zen-Meditation auch ein spezielles Programm für Führungspersonen anbietet.

Aus diesem Programm nimmt er die Überzeugung, dass Achtsamkeit als Anti-Stress-Programm nur dann erfolgreich in Unternehmen eingebaut werden kann, wenn auch die Betriebsleitung selbst etwas in ihrer Haltung ändert. «Sonst wird das Achtsamkeitsprogramm abgewirtschaftet – und man sucht nach neuen Methoden.»

Zentral sei letztlich die Stille. Sie heile besser als jede Pille.

Der SRF Kultur Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Getty Images / Bildmontage

Abonnieren Sie unseren Newsletter – mit den besten Kulturgeschichten der Woche, Tipps und Trouvaillen.

Meistgelesene Artikel