Ihre Entdeckung war ein Zufall. Ende der 1980er-Jahre war die Angst vor HIV oder Hepatitis gross. Die Studenten der Freien Universität Brüssel weigerten sich deshalb, für die Identifikation und die Isolierung von Antikörpern für ein Praktikum, eigenes oder das Blut der Kolleginnen und Kollegen zu verwenden.
Glücklicherweise gab es im Gefrierschrank noch Dromedar-Blut.
Das Experiment förderte Überraschendes zutage: Neben den herkömmlichen Antikörpern entdeckten die Studenten einen weiteren, bis dahin unbekannten Antikörper. Das hatte man bis dato noch nie gesehen – nicht beim Menschen, Kaninchen oder Mäusen.
Seine Besonderheit: ein viel geringeres Molekulargewicht. Die Masse des Antikörpers ist geringer, da er nur zwei Aminosäuren-Ketten hat, anstatt vier Ketten wie ein herkömmlicher Antikörper.
Zufallsentdeckung bestätigt
Um sicher zu sein, wurde das Experiment mit Blut von Kamelen, Lamas und Alpakas aus dem Brüsseler Zoo wiederholt. Und tatsächlich hatten alle Tiere der Familie der Kamele diese sonderbaren Mini-Antikörper.
Aber handelt es sich bei den neu entdeckten Antikörpern nur um Überreste eines primitiven Immunsystems oder tatsächlich um funktionierende Antikörper?
Um das herauszufinden, brauchten die Forscher ein lebendes Tier. Würde sein Immunsystem reagieren, wenn ihm zum Beispiel ein Virus gespritzt wird? Tatsächlich reagierte das Tier mit der Bildung der sonderbaren, kleinen Antikörper.
Die Entdeckung, die später die Medizin revolutionieren würde, machten die Wissenschaftler kurz darauf, indem sie feststellten, dass sich die Spitze des Antikörpers abtrennen lässt, ohne dass das Fragment seine Robustheit und Bindungsfähigkeit an Fremdkörper verliert: Der Nanoantikörper ist geboren.
Hoffnung für die Medizin
Seine geringe Grösse und die enorme Bindungsfähigkeit machen den Nanoantikörper vielfältig einsetzbar.
- Ein erster Durchbruch gelingt 2014 im Zusammenhang mit der Therapie einer bis heute potenziell tödlichen Krankheit: Anthrax, auch bekannt als Milzbrand. Ein Nanoantikörper ist in der Lage, in die Schutzhülle des Bakteriums Bacillus anthracis einzudringen und es zu zerstören.
- 2019 folgt ein Medikament zur Behandlung einer seltenen Blutgerinnungsstörung. Der Nanoantikörper Caplacizumab kann Blutgerinnsel in der Mikrozirkulation von Organen und Geweben auflösen. Die Sterblichkeit der Erkrankung wird nochmals gesenkt.
Wissenschaftler weltweit forschen mit Nanoantikörpern, um präzisere Therapien bei Krebs und bessere Diagnostik-Verfahren bei Alzheimer zu finden. Dank ihrer guten Bindungsfähigkeit können die Nanoantikörper auch als Marker eingesetzt werden – um krankes Gewebe von gesundem zu unterscheiden oder Eiweissablagerungen im Gehirn zu detektieren.
30 Jahre nach der Entdeckung, dem Wegfall des Patentschutzes für die kommerzielle Nutzung Anfang der 90er-Jahre, viel Grundlagenforschung und der durchschnittlich 15-jährigen Entwicklungsphase eines neuen Medikamentes, stehen viele neue Anwendungsmöglichkeiten kurz vor einer möglichen klinischen Zulassung.
Das Potenzial ist so gross, dass viele Forschungszentren nun eigene Lama- oder Alpaka-Herden besitzen.