Die Gämse wurde vor 20 Jahren zum Symbol für die deutsche Rechtschreibreform. Bis dahin begegnete man dem scheuen Tier nur in den Alpen. Danach war es plötzlich überall präsent.
Die «Gämse», die nach neuer Rechtschreibung die «Gemse» ersetzte, war das Beispiel für Sinn und Unsinn der neuen Regelung. Logisch, sagten die Befürworter der Reform: Gämse kommt von Gams, also ist es einfacher, wenn das Tier mit «ä» geschrieben wird. Quatsch, sagte mein Germanistikprofessor: Das Wort wird so selten geschrieben, dass es keine Rolle spielt, wie man es schreibt.
Wenig Wille zum Umlernen
Die Widerstände damals waren enorm. Lehrerverbände wehrten sich gegen die neuen Regeln, namhafte Schriftsteller und mächtige Zeitungsverlage forderten die Rückkehr zur alten Rechtschreibung.
«Der Widerstand kam von jenen, die umlernen mussten. Denn umlernen ist mühsam», sagt die Pädagogin Afra Sturm: «Für jene, die neu lernen müssen, ist durch die Reform einiges einfacher geworden.»
Einfacher sollte es werden, das war das erklärte Ziel der Rechtschreibreform. Doch keine Reform kann die Komplexität der Sprache wegzaubern.
Mehr Freiheit – zu viel?
Dass man korrekt schreiben kann, sei auch wichtig für das Lesen, sagt Afra Sturm: «Es ist wichtig, dass die Wortschreibung beherrscht wird. Sie erleichtert das Lesen. Ich verstehe einen Text besser, wenn ich ihn nicht mühsam entziffern muss.»
Besonderheiten hingegen seien für den alltäglichen Gebraucht nicht so relevant: «Ob man ein Wort getrennt oder zusammen schreibt, fällt nur den Spezialistinnen und Spezialisten auf.»
Ob es durch die Reform einfacher geworden ist, fehlerfrei zu schreiben, ist nach wie vor umstritten. Gegner der Reform kritisieren heute vor allem, dass die Regelung zu lasch sei.
Viele Varianten sind erlaubt, auch wer im Duden Rat sucht, bekommt oft mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. Diese Freiheit führe zu Verwirrung, so die Kritiker.
Doch Afra Sturm sieht darin einen Vorteil: «Ein Beispiel ist das Binnen-I, das nach früherer Rechtschreibung verboten war. Die neue Regelungen sagt dazu nichts. Es ist also etwa erlaubt, ‹HörerInnen› zu schreiben.» Man tue gut daran, nicht alles zu regeln: «Die Schreibenden erhalten die Freiheit, so zu schreiben, wie sie gerne wollen.»
Schritt für Schritt verändert
So kann sich die Sprache sukzessive weiterentwickeln, ganz ohne Reform. Welche Änderungen in den Duden wandern, darüber entscheidet laufend der Rechtschreibrat. Die kleinen Änderungen werden anschliessend in den Wörterbüchern angepasst.
Der Gämse ist das egal. Sie hat sich nach der jahrelangen Präsenz in Seminarräumen und Zeitungskommentaren wieder in ihren ursprünglichen Lebensraum zurückgezogen: Man findet sie heute vor allem in den Alpen. Ob als Gämse oder Gämsi, als Gemsi, Gämschi, Gemschi, Gemsche, Gamstier oder Gams.