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Aufschieben ist normal Prokrastination ist keine Diagnose

Alles andere erledigen, nur nicht das, was unangenehm, aber wichtig wäre: Das ist völlig normal. Seien wir etwas nachsichtig mit uns selbst. Und: Bei grossen Projekten sind kleine Etappenziele sinnvoll.

Prokrastinieren ist völlig normal. Auch wenn viele darunter «leiden». Obwohl, leiden ist eigentlich der falsche Ausdruck. Besser, man würde sagen: Die meisten prokrastinieren. Und das ist auch gut so. Stehen unangenehme Arbeiten an, erledigt man lieber alles andere. Das ist Prokrastination. Wie heisst es so schön im Volksmund: «Unter Druck entstehen Diamanten.»

«Auch ich persönlich kenne das Problem», gibt die Psychologin und Psychotherapeutin Sandra Figlioli-Hofstetter freimütig zu und lacht. «Es gibt Leute, die brauchen einfach ein bisschen Druck, zu denen gehöre ich ebenfalls.»

Fast alle schieben auf

Studien bei Studierenden haben gezeigt, dass nur etwa fünf Prozent Prokrastination nicht kennen. Mit anderen Worten: 95 Prozent schieben regelmässig auf. Da bleibt schon mal die Bachelor-Arbeit liegen, dafür ist das Badezimmer blitzblank geputzt.

Ist es Faulheit?

«Sicher kann man bei der Prokrastination nicht von Faulheit sprechen», sagt die Expertin. Denn statt der dringenden, aber unangenehmen Aufgabe macht man ja etwas anderes. Und seien wir ehrlich: Einiges, was auf dem Stapel liegt, erledigt sich auch von selbst.

Es gibt Mittel und Wege

Ein Patentrezept gegen das Aufschieben gibt es nicht. Oder doch? Akzeptieren ist sicher ein Weg, so Figlioli-Hofstetter. «Es geht darum, zu akzeptieren, dass wir es bei der Prokrastination mit etwas Urmenschlichem zu tun haben».

Ich habe akzeptiert, dass ich unter Druck einfach besser funktioniere.
Autor: Sandra Figlioli-Hofstetter Psychologin

«Ich habe beispielsweise akzeptiert, dass ich gerne mal etwas aufschiebe», sagt die Psychologin und Psychotherapeutin. «Ich weiss aber auch von mir, dass ich am Schluss doch alles rechtzeitig erledigt habe.» Es braucht für sie einfach den notwendigen Druck. «Ich habe akzeptiert, dass ich unter Druck einfach besser funktioniere», gibt Figlioli-Hofstetter zu.

Bei grossen Projekten

Bei grossen Projekten – wie bei einer Bachelor-Arbeit – setzt man sich am besten kleine Etappenziele. «Es bringt nichts, sich vorzunehmen, sieben oder acht Stunden an der Arbeit zu schreiben», so die Expertin. Besser ist es, sich ein Ziel von einer Stunde zu setzen.

Typisches Beispiel für Prokrastination: Die Steuererklärung

Box aufklappen Box zuklappen

Bei der Steuererklärung macht es Sinn, Anfang Jahr ein bisschen Disziplin an den Tag zu legen und sämtliche Belege auf dem gleichen Stapel, noch besser in einem Mäppchen zu sammeln. «Und dann ist es wichtig, sich nicht schon Anfang Jahr mit der Abgabe, die erst im März erfolgt, zu stressen», sagt Figlioli-Hofstetter.

Die Prokrastinationszeit kann sich – gerade mit Verlängerungsgesuchen bei der Steuerbehörde – gewaltig in die Länge ziehen. Und noch ein Tipp: Vielleicht ist es einem tatsächlich so viel Wert, und man lässt die Steuererklärung von einem Profi ausfüllen. Den Termin mit dem Steuerberater sollte man dann allerdings nicht aufschieben.

«Hat man eine Stunde Einsatz gezeigt, wird man mit einem guten Gefühl belohnt», sagt die Psychologin. Und wer weiss, vielleicht sitzt man sogar noch länger als eine Stunde daran und kommt gar in den Flow und die Arbeit geht plötzlich leicht von der Hand. Auch ein Arbeitsplan kann helfen. Auch hier gilt es, diesen nicht zu überfrachten und realistisch zu planen.

Keine Diagnose

Auch wenn Prokrastination menschlich und fast schon normal ist, unter der Aufschieberitis leiden aber auch einige. Ist der Leidensdruck gross und eine Beeinträchtigung im Alltag da, so kann professionelle Hilfe ratsam sein. Prokrastination ist bis heute in der Schweiz keine Diagnose.

Ratgeber, 19.12.2022, 11:10 Uhr

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