Albanien und Montenegro – in diesen beiden europäischen Staaten beenden manche Eltern eine Schwangerschaft, weil sie das ungeborene Mädchen nicht wollen. Dies zeigt eine neue Studie, die dieses Phänomen weltweit so genau untersucht hat, wie wohl keine zuvor.
Lebensgefährlich werde es für ungeborene Mädchen, sagt Studienautorin Fengqing Chao von der Universität von Singapur, wenn in einer Gesellschaft drei Faktoren zusammenkämen: «Wenn Eltern Zugang zu diagnostischen Methoden erhalten, die das Geschlecht des Ungeborenen anzeigen, wenn in einer Gesellschaft Söhne traditionell stark bevorzugt werden, und wenn die durchschnittliche Kinderzahl in den Familien abnimmt.» Dann gehen die Eltern auf Nummer sicher und treiben ab, wenn das ungeborene Kind ein Mädchen ist.
Ungewollte Mädchen
In Albanien begann diese verhängnisvolle Praxis nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den 1990er-Jahren. «Der Umsturz löste grosse wirtschaftliche und psychische Unsicherheit aus», sagt Mathias Lerch vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung.
Halt gaben in dieser Situation die Familie und die patriarchalische Tradition, die in den Zeiten des Kommunismus unterdrückt worden war. Dies führte zu vermehrten Abtreibungen von ungewollten Mädchen.
Tief verankert
Es sind also nicht nur Gesellschaften weit weg von uns, zum Beispiel in China und Indien, in denen diese Praxis herrscht. Es geschieht auch hier in Europa – und das sogar näher, als man vermuten könnte, sagt Mathias Lerch: «Manche Migranten handeln auch in ihrer neuen Heimat so, zum Beispiel manche Albaner in Italien und Inder in Grossbritannien.»
Das heisst: Dieses Verhalten ist tief in der Kultur verankert – und westeuropäische Staaten schaffen es nicht, dies komplett zu verhindern.
Immerhin: Die neuesten Zahlen, die das Team um die Demografin Fengqing Chao nun präsentieren, lassen hoffen. In vielen Ländern, in denen ungewollte Mädchen abgetrieben werden, nimmt diese Praxis ab – auch in Albanien.
Der Staat kann eingreifen
Am deutlichsten zeigt sich der Trend in Südkorea, wo diese Art von Abtreibungen nach 30 Jahren komplett verschwunden ist. Fengqing Chao sagt, aus diesem Beispiel könnten andere Staaten lernen.
Die südkoreanische Regierung habe viel getan, um die Stellung der Frauen und ihre Bildung zu verbessern – und sie habe auch gegen die Vorliebe für Söhne gekämpft.
Langsamer Wandel
In Albanien müsse man allerdings abwarten, ob der positive Trend anhalten wird, sagt Mathias Lerch. Albaniens Gesellschaft sei auf die Arbeitsmigration in andere Länder angewiesen. Und meistens wandern die Männer aus.
Familien ohne Männer seien deshalb stärker von Armut bedroht, so Lerch. «Und deshalb muss man beobachten, wie sich der Trend weiterentwickelt, denn kulturelle Veränderungen gehen nicht so schnell voran.»