Die Zahl der trans Kinder und Jugendlichen steigt. Wer in Schweizer Kliniken nachfragt, erhält überall dieselbe Antwort: Die Outings werden mehr - und dies schnell.
In der Sprechstunde der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich seien die Nachfragen explodiert, sagt Leiterin Dagmar Pauli. Die Zahl betreuter trans Kinder habe innerhalb von zehn Jahren ums Achtfache zugenommen: von 10 auf 80 jährlich.
Am Universitätskinderspital Basel wurden in den letzten vier Jahren etwa zehnmal mehr Kinder und Jugendliche behandelt als in den Jahren zuvor. Am Universitätsspital Lausanne CHUV haben sich die Behandlungen allein im letzten Jahr verdoppelt.
Trans Kinder verunsichern die Erwachsenen
Diese Entwicklung ist auch in anderen Ländern Europas oder Nordamerikas zu beobachten. Das macht viele Erwachsene nervös. Denn mit den trans Kindern und Jugendlichen rückt eine besonders verletzliche Gruppe in den Fokus. Die Diskussionen und Interpretationsversuche werden emotionaler und bisweilen auch polemisch.
Wächst die Zahl der trans Kinder tatsächlich oder verschiebt sich lediglich der Zeitpunkt der Outings nach vorne? Ist heute sagbar, was früher verschwiegen werden musste? Oder ist alles nur ein Hype, der junge Menschen zu irreversiblen medizinischen Schritten veranlasst?
Ja, die Outings kommen heute früher. Ja, die Beratungsangebote erleichtern das Sprechen übers trans-Sein. Nein, es ist kein Hype. Dies die Einschätzung der meisten Medizinerinnen.
Streiten um die Regeln
International werden derzeit zwei Fragen besonders kontrovers diskutiert: Welches soll das Mindestalter sein für hormonelle und operative Eingriffe und ab wann dürfen Jugendliche ohne Zustimmung der Eltern über z.T. irreversible Eingriffe entscheiden?
Grossbritannien und Schweden erleben derzeit – nach Klagen und Gerichtsurteilen – einen Backlash. Liberale Gesetze sind auf Eis gelegt und Hormonbehandlungen Minderjähriger werden restriktiver gehandhabt.
Medizinisches Neuland
Die öffentliche Debatte beeinflusst auch die Arbeit jener, die trans Kinder und Jugendliche behandeln. Sie befinden sich in einem enormen gesellschaftlichen Spannungsfeld und arbeiten teilweise in medizinischem Neuland.
Kerstin von Plessen, Leiterin der universitären Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsspital CHUV in Lausanne beobachtet eine «beachtliche Politisierung» der Diskussion: «Man wirft uns vor, wir würden die Kinder psychiatrisieren.» Dies, obwohl überdurchschnittlich viele trans Kinder und Jugendliche unter Begleiterkrankungen wie Depressionen und Ängsten leiden.
Dagmar Pauli spricht von einer «Kultur der Empörung». Die Leiterin der Sprechstunde an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich wünscht sich eine sachlichere Diskussion. Sie hat die psychische Gesundheit von trans Kindern und Jugendlichen im Fokus: «Viele sind depressiv, suizidal und gefährdet. Wir wollen sie nicht an Suizid verlieren.»
Eingriffe in gesunde Körper
Die Somatikerinnen wiederum sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, gesunde Körper zum Teil irreversibel zu verändern. Christa Flück, Hormonspezialistin am Inselspital Bern, sagt: «Die Suizidalität der Jugendlichen geht mit den Hormonbehandlungen runter. Aber über längere Zeit vielleicht auf Kosten der körperlichen Gesundheit.»
Doch die Kinder und Jugendlichen sind jetzt da und sie brauchen jetzt Hilfe, sagt Psychiaterin Dagmar Pauli: «Die Jugendlichen in meiner Sprechstunde spielen nicht mit ihrer Geschlechtsidentität. Sie haben oft über Jahre gegen ihr trans-Sein angekämpft. Das hat nichts mit Coolness zu tun.» Für Hormonspezialist Urs Zumsteg vom Universitätskinderspital Basel ist es deshalb eine Frage des Respekts, die Jugendlichen zu behandeln.
Behandlung Schritt für Schritt
Die meisten Medizinerinnen hierzulande folgen dem in der Schweiz etablierten Behandlungsplan: Zuerst ein psychiatrisches Gutachten, das die Transidentität bestätigt. Dann die gezielte Blockade der Pubertät in einem sehr frühen Stadium.
Sind die Jugendlichen nach ein, zwei, manchmal drei Jahren Pubertätsblockade immer noch sicher, dass sie trans sind, werden gegengeschlechtliche Hormone – Östrogen oder Testosteron – eingesetzt. Viele Kliniken in der Schweiz machen diese Gegenhormontherapien erst ab 16 Jahren, andere schon früher. Operiert wird – zumindest in öffentlichen Kliniken – nicht vor Erreichen der Volljährigkeit.
Urteilsfähigkeit der Jugendlichen ist ein Prozess
Doch kann ein 14-, 15-, 16-jähriger Mensch beurteilen, wie er dereinst mit den Folgen hormoneller Eingriffe umgehen wird? Kann eine Jugendliche abschätzen, ob sie im späteren Leben mit einer möglichen Unfruchtbarkeit oder einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko zurechtkommen wird?
Damit Jugendliche das Ausmass von teilweise irreversiblen Eingriffen erfassen können, ist Aufklärung nötig. Ein Prozess, der Zeit braucht und in den die Eltern einbezogen werden. Dagmar Pauli und Christa Flück, die Psychiaterin und die Hormonspezialistin, empfinden gerade deshalb die Jahre der Pubertätsblockade als produktive Wartezeit.
Im Wartesaal der Pubertätsblockade
Die Pubertätsblockade sei nicht – wie von Kritikern behauptet – eine gefährliche Einbahnstrasse, die automatisch zur Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen führe. Beide Medizinerinnen haben mehrfach erlebt, dass Jugendliche während dieses Moratoriums zu ihrem Geburtsgeschlecht zurückgefunden hätten.
Entgegen der Behauptung von Kritikern gebe es keine Hinweise, dass die pubertätsblockierenden Hormone später die Fruchtbarkeit reduzierten. Das zeige die jahrzehntelange Erfahrung mit der Therapie von Kindern, die bereits im Vorschulalter in die Pubertät kommen.
Was mögliche Langzeitfolgen von Gegenhormontherapien mit Testosteron oder Östrogen bei Frühbehandelten angeht, fehlen aber immer noch zuverlässige wissenschaftliche Studien. Doch die Forschung kommt zunehmend auf Touren. Um die Therapien zu verbessern und zu lernen, was die Behandlung von heute in der Zukunft bewirkt.