Dicke Augenwülste, wuchtiger Kiefer, fliehende Stirn, stämmig gebaut: Mit diesem Steckbrief wurde der Neandertaler lange krass unterschätzt. Homo stupidus sollte er ursprünglich heissen, dummer Mensch.
Doch in jüngster Zeit bröckelt dieses Bild, erst recht seit der neusten Untersuchung, die aktuell im Magazin «Science» zu lesen ist. Die Neandertaler waren demnach geschickte Künstler. Sie haben in spanischen Höhlen symbolbeladene Malereien geschaffen.
Elegante Tierzeichnungen bisher falsch datiert
«Wir haben es nicht mit Schmierereien zu tun, sondern mit bewusst gemalten Zeichen, die etwas ausdrücken», so Archäologe Alistair Pike von der britischen Universität Southampton. Diese Symbole in den Höhlen La Pasiega in Nordspanien, Maltravieso im Zentrum und Ardales im Süden Spaniens bestehen aus rötlichen Punkten, Dreiecken und Strichen. Auch Negativhandabdrücke sind zu sehen, eine schwungvoll gemalte Leiter oder elegante Tierzeichnungen, vom Pferd bis zum Auerochsen.
«Neu sind diese Malereien nicht. Doch bisher waren sie falsch datiert», sagt Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die Farbe an den Höhlenwänden besteht nämlich aus mineralischen Pigmenten, die sich bisher nur vage datieren liessen.
Mit Raffinesse haben die Forscher in den spanischen Höhlen das nun geändert: Sie haben Kalzitablagerungen datiert, die zum Teil über den Malereien entstanden sind, weil Wasser darüber gelaufen ist. So war klar: Die darunterliegenden Malereien müssen gleich alt sein wie die Ablagerungen oder älter.
Die früheste Kunst stammt aus Neandertaler-Hand
Die Ergebnisse brachten eine Sensation: Die Malereien stammen nämlich aus einer Zeit, als in Europa erst Neandertaler lebten. «Das Alter liegt bei mindestens 64’000 Jahren», sagt Geochronologe Dirk Hoffmann. Auch nicht beteiligte Experten wie Klaus Mezger von der Universität Bern bestätigen die Verlässlichkeit dieser Datierung.
Mit anderen Worten: Als Erschaffer der attraktiven Höhlenkunst kommen nur Neandertaler in Frage – nicht wie bisher angenommen unsere direkten Vorfahren. Denn letztere kamen erst 20’000 Jahre später nach Europa.
Die scheinbar so grobschlächtigen Neandertaler waren offenbar die frühsten Künstler dieser Welt. Das belegt auch eine Neudatierung von etwas einfacheren kunstartigen Gegenständen, welche das internationale Forschungsteam nun vorgenommen hat: Bemalte und perforierte Muscheln, ebenfalls aus Spanien, erwiesen sich als mindestens 115’000jährig. Das sei älter als sämtliche vergleichbaren Funde weltweit, so die Forscher.
Homo sapiens hat wichtiges «Alleinstellungsmerkmal» verloren
Für die Geschichte der Menschheit heisst das: Der moderne Mensch ist einmal mehr nicht die Krone der Schöpfung. «Die Neandertaler waren mit ihren geistigen Fähigkeiten nah dran am Homo Sapiens, wenn nicht sogar ebenbürtig», so Dirk Hoffmann.
Denn um sich künstlerisch-symbolisch zu verhalten, müsse man planen und abstrakt denken können. Das setze einen hohen Grad an Intelligenz voraus. Solch symbolisches Verhalten galt bisher als eines der wichtigsten «Alleinstellungsmerkmale» unserer direkten Vorfahren. Das haben sie mit den neusten Erkenntnissen verloren.
Immer mehr Wissenschaftler plädieren nun dafür, den Neandertaler nicht mehr als eigene, dem Homo Sapiens geistig unterlegene Spezies zu sehen, sondern eben als kognitiv gleichwertig. Noch nicht geklärt ist die Frage, was die Neandertaler-Symbole bedeuten. Und brennend gern wüsste man, warum diese begabten frühen Menschen vor etwa 30’000 Jahren von der Erde verschwanden.