Stellen Sie sich vor, Sie können sich nichts vorstellen. Unvorstellbar, oder? Für Merlin Monzel – als Betroffener von Aphantasie, aber auch als Wissenschaftler – Alltag. Der Neuropsychologe hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses weitgehend unerforschte Phänomen besser zu verstehen und bekannter zu machen. Warum, erzählt er hier.
«Dass in meinem Kopf etwas anders abläuft als bei den meisten, habe ich zum ersten Mal 2016 auf einer Hausparty realisiert. In der Vorstellungsrunde sollte jeder einen persönlichen Fact teilen, von dem er glaubte, er sei einzigartig. Ein Mädchen erzählte, sie könne sich nichts vorstellen. Ich dachte nur: Wow. Was soll daran besonders sein? Es kann sich ja niemand wirklich etwas vorstellen. Tja… An diesem Abend habe ich erfahren, dass wir beide die einzigen waren, bei denen das so ist.
Sandra* und ich haben uns auf dieser Party stundenlang unterhalten und sind mittlerweile befreundet. Obwohl es mir sehr gut ging damals – ich kannte es schliesslich nur so – war ich froh, dass ich direkt jemanden hatte, mit der ich mich austauschen konnte.
Ich bin ohne Vorstellungsvermögen geboren worden – wie die meisten Aphantasisten. Den Tipp, dass man sich Leute in Unterhosen vorstellen soll, wenn man nervös ist, habe ich immer für komplett schwachsinnig gehalten. Trotzdem habe ich es wieder und wieder versucht – und bei Präsentationen den Satz: «Die Leute sind in Unterhosen» innerlich runtergebetet. Natürlich ohne Erfolg.
Keine Bilder im Kopf
Wenn meine Mutter mir den Ratschlag gab, Schäfchen zu zählen, um müde zu werden, habe ich mich immer gefragt, was genau sie von mir will – weil da ja offensichtlich nirgendwo Schäfchen waren. Das ging so weit, dass ich mir Youtube-Videos von Schafen, die über Zäune springen, angeschaut habe. Ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke.
Ich habe mittlerweile einige Studien zum Thema durchgeführt. In Befragungen sagen viele Personen mit Aphantasie, sie würden einfach schwarzsehen, wenn sie sich etwas vorstellen sollen. Eigentlich ist es aber Leere.
Schon auf der Hausparty haben Sandra* und ich festgestellt, dass unser Gedächtnis relativ schlecht ist – vor allem das Autobiografische. Aus neuropsychologischer Sicht macht das Sinn, denn gerade das autobiografische Gedächtnis stützt sich darauf, vergangene Erlebnisse mit Hilfe aller Sinneseindrücke wiederzuerwecken. Wie die Schule hiess, auf der wir waren oder in welchem Jahr wir mit dem Studium angefangen haben, wissen wir noch. Aber wie alte Schulfreunde aussahen oder das Klassenzimmer: keine Ahnung.
Wenn man sich selbst vergisst
Zu wissen, dass die eigene Vergangenheit verschwindet, tut weh. An meine erste Freundin zum Beispiel kann ich mich nicht mehr erinnern. Klar, ich kenne ihren Namen noch und weiss, dass wir eine gute Zeit hatten. Aber ich sehe ihr Gesicht nicht mehr und kann mich auch an unsere gemeinsamen Ausflüge nicht mehr erinnern. Wie hat mein Kindergeburtstagslieblingsessen geschmeckt? Wie hat es in der Turnhalle von früher gerochen? Essenzielle Erfahrungen des Menschseins sind einfach nicht mehr da. Das bedroht, zumindest gefühlt, auch meine Identität.
Trotzdem: In der Aphantasie schlummert auch eine Schönheit. Sie ist Teil der neurologischen Diversität und zeigt mir immer wieder, wie verschieden unser Gehirn und unser Geist sein können. Dass Dinge, die wir für normal halten, eben nicht immer normal sind.»