Geht es um Atomenergie, haben Finnland und die Schweiz zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Beide beziehen etwa gleich viel Strom aus Kernkraftanlagen – um die 30 Prozent des gesamten Stromverbrauchs. Und zweitens: Die Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle, die in den Atomkraftwerken anfallen, dauerten in beiden Ländern mehrere Jahrzehnte.
Weltweit erstes Endlager für AKW-Abfall
Der grosse Unterschied aber ist: In Finnland verlief diese Suche erfolgreich. Die beiden finnischen AKW-Betreiber TVO und Fortum bauen gemeinsam an Finnlands Westküste auf der Halbinsel Olkiluoto das weltweit erste Endlager für radioaktive Abfälle aus AKW. Innert weniger Jahre soll dieses Lager den Testbetrieb starten. In der Schweiz hingegen könnten die Bauarbeiten für ein solches geologisches Tiefenlager allerfrühestens im Jahr 2045 beginnen.
Mit ihren Schwierigkeiten ist die Schweiz nicht allein: Auch die Endlagersuche in anderen Ländern wie Deutschland, den USA oder Grossbritannien scheitert immer wieder an den geologischen Herausforderungen, aber massgeblich auch am Widerstand der Bevölkerung. Wie also ist es in Finnland gelungen, erfolgreich einen Standort zu finden und mit dem Bau eines Endlagers zu starten?
Ängste der Bevölkerung nicht ernst genommen
Markku Lehtonen untersucht seit 15 Jahren Fragen rund um die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Der gebürtige Finne bezeichnet sich selbst als interdisziplinären Soziologen und forscht derzeit an der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona. Er analysiert die Endlagersuche in verschiedenen Ländern und sagt: «Am Anfang verlief die Suche in allen Ländern schwierig. Die Nuklear-Industrie hat fast überall dieselben Fehler gemacht.»
Sondierbohrungen wurden gestartet, ohne dass die lokale Bevölkerung einbezogen wurde. Die betroffenen Menschen wurden sehr technokratisch über die geplanten Projekte informiert. Ängste oder Bedenken aus der Bevölkerung hingegen wurden kaum berücksichtigt.
Auch die Finnen und Finninnen reagierten zu Beginn mit Widerstand. Die AKW-Betreiber mussten dazulernen und ihr Vorgehen ändern.
Mitte der 1990er-Jahre schrieb die finnische Regierung den AKW-Betreibern ein partizipatives Verfahren vor, das die lokale Bevölkerung in das Endlager-Projekt mit einbezog. Das war ein wichtiger Schritt, da die Kommunen in Finnland ein Veto gegen den Bau eines geologischen Tiefenlagers einlegen können.
Die wichtigste Lektion dabei sei gewesen, dass die AKW-Betreiber sich auf sogenannte «nuclear communities» konzentriert hätten, sagt der finnische Soziologe Lehtonen. Gemeint sind damit jene beide Regionen, in denen in Finnland bereits Atomkraftwerke stehen. Denn: «Die finnischen AKW haben den Ruf, dass sie sehr sicher betrieben werden», sagt er.
Das Vorgehen habe dazu geführt, dass die Menschen über die Jahrzehnte Vertrauen zu den AKW-Betreibern aufbauten – Vertrauen, das dann geholfen habe bei der Suche nach einem Endlager.
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Hinzu kämen bestimmte Eigenheiten der finnischen Gesellschaft, welche die Suche nach einem Endlager wohl erleichtert hätten. Lehtonen beschreibt die Finnen und Finninnen als eine «Ingenieurs-Gesellschaft»: Einerseits würden Ingenieure in Finnland hohes Ansehen geniessen, andererseits sei auch die Denkweise vieler Finninen und Finnen vergleichsweise stark geprägt von Pragmatismus, Effizienz und Vertrauen in Technik.
Das fiel auch anderen Forschern auf, die sich mit der finnischen Endlagersuche beschäftigten, zum Beispiel dem US-amerikanischen Anthropologen Vincent Ialenti.
Mit der Bevölkerung entscheiden
Dieser Strategie-Wechsel – keine Entscheidung mehr von oben herab, sondern ein Vorgehen zusammen mit der betroffenen Bevölkerung – geschah nicht allein in Finnland. Auch in der Schweiz musste die Nagra, die nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, ihr Vorgehen Ende der 1990er-Jahre gezwungenermassen ändern.
Mit ihren Plänen für ein Endlager war die Nagra an verschiedenen Orten in der Schweiz immer wieder gescheitert. Seit 2008 nun läuft die Endlagersuche gemäss dem «Sachplan geologische Tiefenlager». Anders als früher werden gemäss diesem Sachplan die Regionen miteinbezogen, die für einen Endlagerstandort in Frage kommen.
Die Verfahren für einen Endlagerstandort in verschiedenen Ländern hätten gezeigt, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, so der Forscher Markku Lehtonen.
Und zwar: Ein transparentes Vorgehen, ein zumindest minimaler Einbezug der betroffenen Bevölkerung, solide Kenntnisse der Geologie und möglichst konkrete Baupläne für ein Endlager.
Was in Finnland funktioniert, funktioniert nicht zwingend auch in anderen Ländern – und umgekehrt.
Darüber hinaus fasst Lehtonen zusammen: «Was in Finnland funktioniert, funktioniert nicht zwingend auch in anderen Ländern – und umgekehrt. Das Verfahren, um ein breit akzeptiertes Endlager zu finden, hängt im Detail stark von den kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten eines Landes ab.»
Zum Beispiel davon, wie wichtig politische Diskussionen für die Menschen in einem Land sind, ob ein Land stark konsensorientiert ist, und auch davon, wie die Macht zwischen Regierung und Regionen in einem Land verteilt ist.
Schweizer Eigenheiten?
Bei allen Rückschlägen, welche die Endlagersuche hierzulande erlebt hat: So schlecht steht die Schweiz heute im internationalen Vergleich nicht da. Das bewertet die OECD so, aber auch die atomkritische Autorenschaft des Weltatommüllberichts.
Der Umweltwissenschaftler Matthias Holenstein ist Geschäftsführer der Stiftung Risiko-Dialog und hat vor einigen Jahren einen Bericht im Auftrag einer der Regionalkonferenzen verfasst. Er sagt: «Ein zentraler Punkt ist, dass die Schweiz heute einen verbindlichen und öffentlichen Fahrplan besitzt» – den Sachplan geologische Tiefenlager – «dieser ist sehr wichtig, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Endlagersuche aufzubauen.»
Knackpunkt Vertrauen
Vertrauen spiele aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine zentrale Rolle beim Thema Endlager, sagt Holenstein. Vertrauen spiele aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine zentrale Rolle beim Thema Endlager, sagt Holenstein.
Ausschlaggebend wird dann sein, ob die breite Bevölkerung den Eindruck hat, das Verfahren für ein Endlager sei fair abgelaufen
«Generell würden Schweizerinnen und Schweizer nicht besonders gern die Vorrteiter-Rolle übernehmen bei technischen Grossprojekten. Lieber schaut man zuerst, was im Ausland an Erfahrungen zusammenkommt und macht sich dann an die Arbeit», bilanziert er.
Anders als bei anderen umstrittenen Grossprojekten wie Windparks oder Funkantennen gibt es für ein Endlager bis heute aber keine Erfahrungswerte, schon gar nicht über Tausende von Jahren.
«Da bleibt der Nagra und den Behörden nichts anderes übrig, als die Bevölkerung möglichst Schritt für Schritt mitzunehmen, ihre Ängste und Kritik ernst zu nehmen – aber auch transparent mit Unsicherheiten umzugehen.» So könne Vertrauen wieder aufgebaut werden und die Leute müssten sich nicht ohnmächtig fühlen.
Anders als in Finnland haben die Kantone heute kein Veto-Recht mehr gegen den Bau eines Endlagers. Möglich ist aber, dass auf nationaler Ebene dereinst darüber abgestimmt wird. «Ausschlaggebend wird dann sein, ob die breite Bevölkerung den Eindruck hat, das Verfahren für ein Endlager sei fair abgelaufen», glaubt Matthias Holenstein.
Eine Mehrheit der Bevölkerung wird also allenfalls über eine direkt betroffene Minderheit hinweg abstimmen – dies eine politische Eigenheit der Schweiz.
Erleichternder Atomausstieg
Der finnische Forscher Markku Lehtonen erwähnt noch einen Aspekt, der die Endlagersuche in der Schweiz allenfalls erleichtern könnte: Der Entscheid des Bundesrates, schrittweise aus der Atomenergie auszusteigen.
Erfahrungsgemäss sei der Widerstand in Ländern mit Atomenergie grösser. Denn durch den Bau eines Endlagers – so die Befürchtung der Gegner und Gegnerinnen – würde auch das Fortbestehen der Atomindustrie als Ganzes unterstützt.
«Wenn hingegen klar ist, dass ein Land mittelfristig aus der Kernenergie aussteigt, dreht sich die Diskussion vor allem um die Frage: Wohin mit dem radioaktiven Atomabfall?», sagt Markku Lehtonen. Und dafür gebe es einen grösseren Konsens, dass man sie lösen müsse.
Ein Problem, dessen Lösung längst überfällig ist. Wenn dereinst tatsächlich ein Endlager in der Schweiz gebaut wird, würden die ersten radioaktiven Abfälle frühstens 2050 im Untergrund versenkt. Fast hundert Jahre, nachdem der allererste Atommüll im AKW Beznau I produziert wurde.