Viele Eltern sind völlig überfordert, wenn sie erfahren, dass ihr Kind ein atypisches Genital hat. So erging es auch dem Ehepaar Müller.* Ihr Kind war eine Frühgeburt von 800 Gramm, kämpfte noch mit anderen gesundheitlichen Problemen, als man ihnen in der Kinderklinik am Inselspital nach ein paar Tagen mitteilte, dass es wohl doch kein Mädchen sei: «Man kennt das schon von der Umgangssprache: ein ‹Zwick›, weder Mädchen noch Junge. Aber dass man selbst davon betroffen ist, damit rechnet man nicht. Das war ein Schock», erzählt die Mutter.
Zu diesem Zeitpunkt hätten die Eltern allen Freunden per SMS mitgeteilt, dass es ein Mädchen sei. «Wir hatten ihr auch schon einen Namen gegeben.» Keine einfache Situation – deshalb werden solche Fälle in der Kinderklinik am Inselspital Bern von einem multidisziplinären Team betreut.
«Wird mein Kind so jemals glücklich?»
Eine davon ist Marie-Lou Nussbaum. Sie war damals umgehend für die psychologische Betreuung der Müllers da. «Wir helfen den Eltern, ihr Umfeld zu informieren. In einer solchen Situation, die richtigen Worte zu finden, ist nicht einfach», erzählt Nussbaum.
Wichtig ist, dass wir vermitteln können, dass ein intergeschlechtliches Kind ein völlig normales und wunderbares Kind ist.
Ihre Aufgabe ist es auch, medizinische Diagnosen zu erläutern: «Die Hauptfrage der Eltern ist meist: Kann mein Kind so jemals glücklich werden? Wichtig ist, dass wir vermitteln können, dass ein intergeschlechtliches Kind ein völlig normales und wunderbares Kind ist.»
In der ersten Phase wünschen sich viele Eltern möglichst schnell eine Therapie. Im Verlauf der Zeit kommen aber auch andere Fragen: «Ist das wirklich notwendig? Ist mein Kind nicht perfekt, so wie es ist, auch mit einer Geschlechtsvariation?»
Nussbaum wolle den Eltern vor allem vermitteln, dass sie Zeit haben, dass schnelle Entscheide jetzt nicht angebracht sind – denn die können weitreichende Folgen haben. Erst wenn alle Fakten auf dem Tisch sind, können die Eltern gemeinsam mit dem Behandlungsteam das weitere Vorgehen besprechen. Sich vielleicht auch mit anderen Familien und Vereinen für intergeschlechtliche Menschen austauschen und sich so an die neue Situation gewöhnen.
Medizinisch oft sehr komplexe Fälle
Gibt es im Inselspital ein Kind mit atypischem Genital auf der Neugeborenen-Station, kommt auch die Endokrinologin Christa Flück zum Einsatz. Sie untersucht als Erstes das äussere Genital: Penis, Vulva oder etwas dazwischen? Ist es – wie im Fall des Kindes von Familie Müller – «dazwischen», geht die Suche weiter.
«Man kann einem äusseren Genital nicht ansehen, was dahinter versteckt ist. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Detektivarbeit losgeht», erklärt Flück. Die Diagnose ist bei Kindern mit einer Geschlechtsvariation oft sehr komplex. Mit Ultraschall überprüft sie gemeinsam mit anderen Fachpersonen die inneren Geschlechtsorgane wie Eierstöcke und Hoden, die Hormone und auch die Genetik des Kindes. Denn sie alle sind an der Geschlechtsentwicklung eines Kindes beteiligt.
Wenn die Hoden im Bauch bleiben, besteht die Gefahr der Unfruchtbarkeit. Es besteht auch ein erhöhtes Krebsrisiko.
Im Falle des Kindes von Familie Müller war das äussere Genital ein sehr kleiner und verkrümmter Penis, mit Harnausgang am Schaft, eine sogenannte «ausgeprägte Hypospadie». Die Hoden waren zwar männlich, aber am falschen Ort – nämlich im Bauch. Und auch die Hormone und die Genetik des Kindes waren eindeutig männlich. Nach eingehenden Gesprächen mit den Eltern und dem interdisziplinären Team – das auch einen Urologen, eine Jugendgynäkologin und einen Ethiker umfasst – wurde entschieden, dass der Penis und die Hoden operiert werden.
«Es bestand medizinischer Handlungsbedarf», so der Urologe Mazen Zeino: «Wenn die Hoden im Bauch bleiben, besteht die Gefahr, der Unfruchtbarkeit. Es besteht auch ein erhöhtes Krebsrisiko.» Man operiere solche Geschlechtsvarianten nur, wenn es absolut notwendig sei und nach eingehender Diskussion mit dem interdisziplinären Team und den Eltern. Auch der Penis wurde so behandelt, damit der Junge heute normal urinieren kann.
Die Kinder müssen verstehen, weshalb für sie entschieden wurde
Heute ist der Junge von Familie Müller drei Jahre alt. Er ist gesund und entwickelt sich gut. Für die Eltern ist klar: Wenn er alt genug ist, wollen sie ihm erklären, weshalb sie so entschieden haben. «Er soll seine Geschichte von Anfang an kennen.»
Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche verstehen, wer sie sind und was passiert ist, damit sie das in ihre Identität integrieren können.
Für die Entwicklung des Kindes sei das entscheidend, erklärt Sexualtherapeutin Nussbaum: «Es ist unglaublich wichtig, dass Kinder und Jugendliche verstehen, wer sie sind, und was passiert ist, damit sie das in ihre Identität integrieren können. Das gibt Selbstvertrauen. Diese Kinder wollen auch wissen, weshalb anwaltschaftlich für sie entschieden wurde, weshalb ein Eingriff in frühen Jahren für die Eltern wichtig war.»
Amtlich müsse jedes Kind heute drei Tage nach der Geburt als Mädchen oder Junge eingetragen werden. Für Eltern eines intergeschlechtlichen Kindes sei das ein extrem herausfordernder Moment, so die Therapeutin. Der Bundesrat hat sich kürzlich gegen den Eintrag eines dritten Geschlechtes entschieden. Intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen sind demnach amtlich nicht abgebildet. Das sei ein schwieriger Nährboden, so Nussbaum, und verstärke die Sorge der Eltern, dass ihr Kind dereinst nicht zu einer Gesellschaft oder Gruppe dazugehören könnte.
Keine Notwendigkeit, ein Kind einem Geschlecht zuzuordnen
Solche Fälle von Geschlechtsvariationen sind selten, am Inselspital sind es rund drei bis fünf pro Jahr und die Fälle sind medizinisch meist sehr komplex und vielfältig. Deshalb gibt es in den grossen medizinischen Zentren, wie Zürich oder St. Gallen, spezialisierte multidisziplinäre Teams, die sich um betroffene Kinder und Eltern kümmern.
Es ist entscheidend, dass wir das Wohl des Kindes im Blick haben.
In vielen Fällen gibt es keinen dringenden medizinischen Handlungsbedarf und somit auch keine Notwendigkeit, ein Kind einem Geschlecht zuzuordnen. Dann empfehlen Fachpersonen am Inselspital, zu warten. «Es ist entscheidend, dass wir das Wohl des Kindes im Blick haben. Oft sind sie noch nicht urteilsfähig. Wir warten dann, wenn immer möglich, bis sie altersentsprechend miteinbezogen werden können. Vor allem da, wo es um ihre höchstpersönlichen Rechte geht», betont Hubert Kössler der Medizinethiker des Teams.
Verbot für nicht lebensnotwendige Operationen gefordert
Auch Urs Vanessa Sager hat eine Geschlechtsvariation und lebt heute genderfluid. Als Sager vor 67 Jahren auf die Welt kam, entdeckte sein Arzt, dass er zwar äusserlich ein Junge war, aber mit einer Geschlechtsvariation. Der Arzt informierte damals die Eltern, nahm aber keinen Eingriff vor, weder hormonell noch operativ.
Sager wuchs bis zur Pubertät männlich auf. Dann veränderte sich sein Körper plötzlich und entwickelte Brüste. «Das gab damals natürlich Probleme in der Schule, im Sport und im Militär. Ich konnte sie aber meistern und ich habe mich damals dazu entschieden, dass ich meinen Körper nicht verändere. Auch später war es nicht einfach, im Berufsleben und in Beziehungen.» Trotzdem sei Sager froh, dass er selbst über seinen Körper entscheiden konnte und nie einen operativen Eingriff hatte.
Obwohl sein Weg nicht immer einfach war, fühlt Urs Vanessa Sager sich wohl in seinem Körper. Heute engagiert sich Sager sich in der Organisation InterAction für die Rechte von intergeschlechtlichen Menschen. InterAction will ein Verbot von nicht zwingend lebensnotwendigen Operationen und Hormonbehandlungen an nicht urteilsfähigen intergeschlechtlichen Kindern erwirken. Im Ständerat ist eine Motion hängig. «Operationen, die nicht wirklich notwendig sind und nur gemacht werden, damit die Kinder in ein binäres System passen, sollen strafrechtlich verfolgt werden», präzisiert Sager.
Die beste Lösung: Das Kind kann entscheiden
Endokrinologin Christa Flück dagegen möchte kein strafrechtliches Verbot: «Das greift zu kurz, diese Kinder mit komplexen medizinischen Problemen brauchen Individuallösungen, die wir gemeinsam mit den Eltern finden wollen, um dem Kindeswohl zu dienen.» Nichts tun könne manchmal auch Schaden anrichten.
Flück weiss aus Erfahrung: Einfache Antworten gibt es bei diesem hochkomplexen Thema nicht. Wichtig sei, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt habe, wo man viel zu schnell Geschlechtszuweisungen vorgenommen habe.
Die Medizin habe sich seither aber unglaublich entwickelt. In manchen Fällen bestehe unmittelbar medizinisch Handlungsbedarf, in anderen nicht. Dann – darin ist sich das interdisziplinäre Team am Inselspital einig – ist es die beste Lösung, einfach medizinisch nichts zu machen und bei Bedarf psychologische Unterstützung anzubieten. Und zu warten, bis das Kind alt genug ist, um selbst zu entscheiden, wie es sich in seinem Körper fühlt.
*Name von der Redaktion geändert.