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In die Schweiz geflüchtet
Aus Wissenschaftsmagazin vom 09.04.2022. Bild: KEYSTONE/DPA/A4211/_Markus Scholz
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Krieg in der Ukraine Aus dem Kriegsgebiet an die Uni: drei Fluchtgeschichten

Ukrainische Wissenschaftlerinnen können nach der Flucht in der Schweiz weiterarbeiten. Gibt das Hoffnung? Die Geschichte dreier Frauen.

Svitlana Drozdovska ist Professorin für Sportwissenschaften und stammt aus Kiew. Aus der Ukraine fliehen, kam für sie nie infrage: «Als Kind habe ich viele Bücher über die Russische Revolution gelesen und dabei die Widerstandskraft der russischen Bildungselite bewundert», erzählt die 50-Jährige.

Damals sei ihr Entschluss gereift, dass sie ihr eigenes Land nie verlassen würde, sollte sie einmal in eine ähnliche Situation geraten.

Doch kurz nach Kriegsbeginn wurde es in Kiew lebensgefährlich. Svitlana Drozdovska flüchtete mit ihrem Mann und den 17-jährigen Zwillingstöchtern zunächst in den Westen der Ukraine. Auch dort war es nicht sicher.

Jobangebot aus Lausanne

Dann kam ein Anruf aus der Schweiz. Vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Lausanne, sie kannte die Schweizer Forscherkollegen von internationalen Konferenzen und Verbänden. «Hätte ich diesen Anruf und das Jobangebot aus Lausanne nicht bekommen, ich hätte die Ukraine nicht verlassen», betont Drozdovska. Doch da war sie: Die Möglichkeit, dem Horror zu entgehen und an einer Schweizer Universität als Senior Researcher zu arbeiten.

Svitlana Drozdovska ist auf Sportphysiologie spezialisiert. Im Labor untersucht sie zum Beispiel Zellmarker, um herauszufinden, welche genetischen Voraussetzungen für bestimmte Sportarten besonders geeignet sind. Solche Fragen will die Professorin auch in Lausanne bearbeiten. Ihr Projekt am Institut für Sportwissenschaft finanziert der Schweizerische Nationalfonds.

Unterstützung aus der Forschung

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Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) unterstützt ukrainische Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende auf der Flucht mit neun Millionen Franken, damit sie hier leben, forschen und lernen können. Der SNF arbeitet dabei mit der Organisation Scholars at Risk zusammen.

Gleichzeitig öffnen Hochschulen und Forschungsanstalten den ukrainischen Wissenschaftlern unbürokratisch die Tür. Die ersten Forscherinnen sind nun daran, an hiesigen Institutionen Fuss zu fassen.

Sie habe jetzt die Möglichkeit, neue Technologien und Methoden kennenzulernen, neue Erfahrungen zu machen, ja neue Partner zu finden für internationale Forschungskooperationen. Sobald der Krieg vorbei ist, will sie in die Ukraine zurückkehren und sich für den Wiederaufbau der Forschung einsetzen. Sie sagt: «Es ist mein Weg, um der Ukraine in Zukunft zu helfen.»

Von Moskau nach Dübendorf: Oksana S.

Auch Oksana S. ist wegen des Krieges in die Schweiz gekommen. Die Physikerin arbeitet seit dem 1. April an der Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) in Dübendorf im Kanton Zürich im Labor für Advanced Analytical Science und ist zudem an der Universität Zürich als Masterstudentin eingeschrieben.

Oksana S. an der Empa in Dübendorf, wo sie im Labor für Advanced Analytical Science arbeitet.
Legende: Oksana S. an der Empa in Dübendorf, wo sie im Labor für Advanced Analytical Science arbeitet. ZVG

Die junge Wissenschaftlerin möchte nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden, zum Schutz ihrer Familie in der Ukraine. Doch es ist ihr ein Anliegen, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen: «Ich habe eine Verantwortung, jetzt zu reden.»

Studium in der Schweiz fortsetzen

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Schweizer Universitäten bieten Studierenden von ukrainischen Hochschulen Unterstützung an, damit diese als Gaststudierende ihre Studien fortsetzen können. So werden an der Universität Zürich UZH die Studiengebühren erlassen und Stipendien als Starthilfe angeboten.

Als Kriterien für Stipendien nennt die UZH ausreichende Sprachkenntnisse in Deutsch und Englisch sowie ein «passendes Studienprogramm an der UZH». In gewissen Fächern wie Medizin und Rechtswissenschaften seien die Möglichkeiten eingeschränkt, Gaststudierende aufzunehmen.

Oksana ist aus Russland in die Schweiz geflüchtet. Als hochbegabte Schülerin erhielt sie seinerzeit nach dem Gymnasium in der südukrainischen Stadt Mykolajiw ein Stipendium, um in Moskau Physik und Chemie zu studieren. Sechs Jahre lang hat sie auf dem Campus einer der angesehensten technischen Hochschulen Russlands gelebt, hat am renommierten Lebedew-Institut in der Physik-Grundlagenforschung gearbeitet.

Russische Professoren ermöglichten eine Ausreise

Nach Kriegsbeginn hiess es zunächst, Studierende aus der Ukraine hätten nichts zu befürchten. Doch rasch erwies sich die Situation als unkalkulierbar. Freunde Oksanas wurden zur Verwaltung zitiert und im Beisein von Regierungsbeamten ausgefragt, ihre Handys kontrolliert, die Zimmer durchsucht. «Meine Professoren rieten mir und anderen ukrainischen Studierenden, Russland zu verlassen – so schnell wie möglich.»

Dabei zeigten sich die russischen Professoren solidarisch mit den Ukrainern auf dem Campus, mehr noch: Sie besorgten Reisetickets, gaben Geld, liessen ihre internationalen Forschungskontakte spielen. So kam Oksana zu einer Einladung in die Schweiz, an die Empa.

Es gibt in Russland sehr wohl auch gute Menschen und in akademischen Kreisen heissen viele den Krieg nicht gut.
Autor: Oksana S. Physikerin

Ein kleiner Koffer mit ein paar Kleidern, ihr Laborjournal und ein Buch über das russische Forschungsinstitut für Magie: Das ist alles, was Oksana aus Moskau mitgenommen hat. Ihre Flucht war eine Odyssee. Flug nach Kaliningrad zur russisch-polnischen Grenze (Flüge aus Russland heraus gab es keine mehr), dann weiter mit Taxi, Bus und Zug.

Zweimal wurde sie festgehalten und verhört. An der Grenze zu Polen nahmen die Beamten ihre Fingerabdrücke und fotografierten sie, «als sei ich eine Kriminelle». Irgendwann, wie durch ein Wunder, stand sie dann mitten in der Nacht auf der polnischen Seite. «Ich war ganz allein, es gab keine Autos, keine Menschen, nur eine Strasse, und hinter mir die russische Grenze.»

Der Krieg hat ihren Plan zunichtegemacht

Das war vor zirka einem Monat. Nach dieser kurzen Zeit sei sie natürlich in ihrem neuen Umfeld in der Schweiz noch nicht vollends integriert, erzählt sie. Aber sie habe im Empa-Labor die Versuche einer Doktorandin für einen neuen Spektrometer begleitet und ein paar theoretische Arbeiten gemacht. «Wissenschaft ist wie Magie», sagt Oksana, «mit ihr kann man alles erklären». Und wenn man die Naturgesetze kenne, könne man auch alles verändern. Die Wissenschaft bleibt ihr.

Persönlich ist für die junge Frau trotzdem nichts mehr, wie es war. Als sie in Moskau war, habe sie einen klaren Plan gehabt: Masterstudium, Doktorat, Postdoc-Stelle – ein Leben für die Wissenschaft. Das habe der Krieg zunichtegemacht. Sie sagt: «Ich habe keinen Plan. Ich will nicht mehr planen.»

Nur Mutter und Tochter konnten fliehen

Auch Oksana Ruchynska ist auf Einladung einer Forschungskollegin in die Schweiz gekommen, an die Universität Freiburg. Die 52-Jährige ist Professorin an der Nationalen W.N.-Karasin-Universität in Charkiw.

Seit 1994 arbeitete sie am Departement für Alte und Mittelalterliche Geschichte. Sie ist spezialisiert auf die Antike, lehrte eine Vielzahl von Fächern und Themen und betreute mit Leidenschaft Bachelor-, Masterstudierende und Doktorandinnen bei ihrer Arbeit.

Daneben publiziert sie, hat an archäologischen Ausgrabungen der alten griechischen Städte am Schwarzen Meer teilgenommen, ist oft an Konferenzen gereist – in die Schweiz, nach Italien, Bulgarien, Rumänien, und auch nach Russland. Das engagierte Leben einer viel beschäftigten Wissenschaftlerin. Bis zum Einfall der russischen Armee.

Die wissenschaftliche Arbeit gibt Halt

«Alle Pläne und angefangenen Projekte wurden zerstört», sagt Oksana Ruchynska. Ihre Familie wurde auseinandergerissen: Während ihr Mann und Sohn in der Ukraine geblieben sind, um das Land zu verteidigen, konnten Oksana Ruchynska und die 17-jährige Tochter fliehen.

In Freiburg sind Mutter und Tochter vorübergehend bei einer befreundeten Archäologieprofessorin untergekommen. Diese schätzte Ruchynskas Arbeit, und sie konnte für die traumatisierte ukrainische Kollegin einen Forschungsbeitrag der Organisation Scholars at Risk vermitteln.

Wenn ich meine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen kann, dann geht mein Leben weiter.
Autor: Oksana Ruchynska Professorin

«Ich habe einen Arbeitsplatz, einen Laptop und Internet, das ist sehr gut», sagt . Sie liebe ihre Arbeit. In Freiburg will sie über neu entdeckte Artefakte schreiben, die in den antiken griechischen Städten an der Schwarzmeerküste in den letzten Jahren ausgegraben worden sind. Sie stellt sich auf einen Aufenthalt von zwölf Monaten ein und sucht gerade für sich und die Tochter eine eigene Wohnung.

Sie sagt: «Wenn ich meine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen kann, dann geht mein Leben weiter.»

Wissenschaftsmagazin, 09.04.2022, 12:40 Uhr

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