Christoph Häni hat immer gerne und viel gearbeitet. Er ist pflichtbewusst, gut organisiert und wurde von allen geschätzt. Sein persönliches und zeitliches Engagement für den Beruf führte dazu, dass er sich immer mehr über die Arbeit definierte. Seine Karriere ist dementsprechend eindrücklich: Der Anwalt, Familienvater und Oberstleutnant im Generalstab war auch persönlicher Mitarbeiter von zwei Bundesrätinnen, von Elisabeth Kopp und Ruth Metzler.
Lebenssinn in der Arbeit gefunden
Er besetzte wichtige Positionen in diversen Bundesämtern. Der Druck war stets hoch. Häni konnte immer gut damit umgehen – bis einige Jahre vor seiner Pensionierung. Damals begann er, mehr Alkohol zu trinken. Stress am Arbeitsplatz und die Pensionierung vor Augen machten ihn verletzlich.
«Plötzlich kamen Gedanken wie: ‹In meiner Pensionszeit braucht mich niemand mehr. Die Wertschätzung, die ich heute bekomme, werde ich verlieren›», erinnert sich Christoph Häni an die schwierigste Zeit seines Lebens.
Dieser Druck habe dazu geführt, dass er nervös wurde. «Ich war ängstlich, gestresst, unausgeglichen, niedergeschlagen und schlussendlich depressiv», erzählt der 73-Jährige. Da habe sich Alkohol als Hilfsmittel angeboten: Zur Entspannung, zum Abschalten, zum Verdrängen. Alkohol diente Christoph Häni als Antidepressivum, als Mutmacher.
Alkoholsucht im Alter
Psychologe Mike Sigrist vom Blauen Kreuz therapiert jede Woche Rentnerinnen und Rentner, die vor oder während ihrer Pension zu Alkoholikern wurden. Über sechs Prozent der über 65-Jährigen in der Schweiz trinken chronisch risikoreich. Das heisst im Klartext: Sie sind abhängig.
In seinen Therapiesitzungen merkt Mike Sigrist, dass hauptsächlich das Stigma Alter, das Gefühl vor dem «Ausrangiertwerden», viele angehende Rentnerinnen und Rentner in die Sucht treibt.
«In unserer Gesellschaft definieren wir uns immer noch sehr über die Arbeit. Über das, was wir wirtschaftlich leisten. Über das, was wir zu einer Gesellschaft beitragen», so Sigrist. Und weiter meint er: «Wir haben ein starkes Defizit-Modell von Alter. Die Wertschätzung älterer Menschen ist in unserer Kultur leider gering. Und ja, das macht Angst».
Mangelnde Vorbereitung auf den Ruhestand
Damit man nicht in das Pensionsloch falle, solle man sich zwei bis fünf Jahre vor der Pensionierung mit dem Leben «danach» beschäftigen, sagt Lilo Steinmann von AvantAge. AvantAge ist eine Zweigstelle der Pro Senectute und bereitet im Dienst von Unternehmen Angestellte auf ihre Pension vor. Seit Jahren leitet die Psychologin solche Vorbereitungskurse.
Sie stellt fest, dass sich die Wenigsten aktiv auf den Ruhestand vorbereiten. Wer aber abrupt auf Freizeit umstelle, riskiere seine Gesundheit: «Für den Körper, für den Geist und für die Seele ist eine Vollbremsung ungesund», sagt Steinmann. Ihr kommen viele persönliche Geschichten von Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Krebsdiagnosen zu Ohren, die sich direkt nach der Pensionierung ereignen.
Pension als Gesundheitsrisiko
Aber ist es tatsächlich medizinisch erwiesen, dass die Pensionierung ein Gesundheitsrisiko ist? Thomas Münzer, Direktor der Geriatrischen Klinik in St. Gallen, kennt die internationale Studienlage zu diesem Thema und sagt: «Es gibt verschiedene Studien, die ein bestimmtes Risiko belegen. Untersuchungen zeigen, dass man nach der Pension häufiger Herzkreislauferkrankungen, Hirnschläge oder Herzinfarkte erleidet. Aber das ist von Land zu Land unterschiedlich».
In Ländern, in denen sich Pensionäre viel bewegen und gut ernähren, sei das Erkrankungsrisiko klein, ergänzt Münzer. Anders ist es hingegen in Ländern, in denen die über 65-Jährigen einen ungesunden Lebensstil pflegen. Dort ist das Erkrankungsrisiko beim Übertritt in die Pension deutlich höher. Es hängt also vom Lebensstil ab, den Pensionierte nach dem Lebensumbruch pflegen.
Wie geht eine «glückliche» Pensionierung?
Entscheidend ist auch, welche Rolle generell die Lohnarbeit eingenommen hat und inwiefern man nach der Pension «gebraucht» wird. Pensionär Daniel Bechtiger hat sich nie über seine Arbeit definiert. Er sagt von sich: «Ich bin glücklich pensioniert. Aber ich war eigentlich auch glücklich während der Arbeitszeit. Mein Glück oder mein Wert hing nie von der Arbeit ab.»
Bechtiger ging verschiedenen Jobs nach: Nach einer Kaufmännischen Ausbildung flüchtete er aus dem Büro in die Berge und arbeitete in Scuol als Bademeister, Eishallen-Wart und Landschaftsgärtner. Den Beruf passte er stets seinen Hobbies an. Sport und viel Zeit in der Natur kamen für ihn immer an erster Stelle.
Das Gegenmittel: Gebrauchtwerden
Alles, was er tut, macht er mit einer Prise Selbstironie. «Sich und seine Arbeit nicht zu ernst zu nehmen, kann verhindern, dass man in Pension in ein Loch fällt», so Bechtiger. Er kenne einige Menschen, die sich nach der Pensionierung plötzlich wertlos gefühlt haben, weil sie das Ansehen ihres damaligen Postens nicht mehr hatten. «Wer sich nicht nur übers Arbeitsleben definiert, der schätzt es vielleicht sogar, als Pensionierter Zeit für seine Hobbys und sonstigen Anliegen zu haben.»
Sich und seine Arbeit nicht zu ernst zu nehmen, kann verhindern, dass man in Pension in ein Loch fällt.
Bechtiger erlebt dies persönlich so. Er engagiert sich nämlich freiwillig für den Verein «Radeln ohne Alter». Wie andere Vereinsmitglieder der ganzen Schweiz holt er Betagte mit E-Rikschas aus den Altersheimen ab, um mit ihnen durch die Natur zu fahren. Ganz nach dem Motto: jeder und jede – egal welches Alter – hat das Recht auf Wind in den Haaren.
Sinnstiftende Aufgaben finden
«Kürzlich sagte eine Frau zu mir: Wie schön, dass ich das noch erleben darf! Jetzt muss ich nicht mehr auf das Sterben warten», erzählt Bechtiger mit leuchtenden Augen. Man spürt förmlich, dass der Pensionär eine neue, sinnstiftende Aufgabe gefunden hat.
Auch wenn Freiwilligenarbeit vielen nicht sehr prestigeträchtig erscheint, trifft sie Daniel Bechtiger mitten ins Herz: «Man muss es im eigenen Herzen spüren, dass man noch brauchbar ist. Gebrauchtwerden sollte jeder, von Jung bis Alt. Und das macht den Menschen wertvoll – bis ins hohe Alter».
Babyboomer revolutionieren das Alter
Bechtiger scheint auch als Pensionär zufrieden zu sein. Die Zufriedenheit der Pensionäre hat Pasqualina Perrig-Chiello wissenschaftlich untersucht. Sie ist Entwicklungspsychologin und emeritierte Professorin an der Universität Bern. «Wer sozial, körperlich und geistig gefordert bleibt, ist in der Pension glücklich.» Dieses Glück werde aber immer mehr herausgefordert, weil die Ansprüche der Babyboomer steigen würden. Laut Perrig-Chiello revolutionieren diese Jahrgänge das Alter.
Die 65-Jährigen von morgen bringen einen neuen Lebensstil mit. Sie sind fit, agil und wollen sich nützlich machen für die Gesellschaft.
Sie kommen demnächst in Pension und seien anspruchsvoller als die Generationen davor: «Die Gesundheit bis ins hohe Alter hat sich verbessert, die finanziellen Möglichkeiten sind gestiegen. Die 65-Jährigen von morgen bringen einen neuen Lebensstil mit. Sie sind fit, agil und wollen sich nützlich machen für die Gesellschaft. Und nicht einfach 20 oder fast 30 Jahre absitzen bis zum Tod», prognostiziert Pasqualina Perrig-Chiello.
20 Jahre lang im Ruhestand zu verharren, das beschäftigte auch Christoph Häni. In der Psychiatrischen Klinik in Münsingen machte er eine Therapie. In den Selbsthilfegruppen traf er andere Rentnerinnen und Rentner. Menschen, die vor oder während der Pension zu trinken begannen. Hier merkte er, dass er mit seinem Problem keineswegs allein war. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Zeit, sich um sich zu kümmern.
Neue Alltagsstruktur aufgebaut
15 Jahre sind seit dem Entzug vergangen. Häni besucht noch immer wöchentlich die Selbsthilfegruppe. Sie gebe ihm Stabilität, sagt er. Die Sucht konnte der Pensionär hinter sich lassen. Auch, weil er seinen Ruhestand in der Klinik ganz genau plante. Ein abwechslungsreiches Programm im Alltag half ihm, nicht mehr an den Alkohol zu denken.
Und er fühlt sich wieder gebraucht: Zusammen mit seiner Ehefrau besucht Häni ehrenamtlich Betagte im Altersheim, kümmert sich um seine Enkel und arbeitete sporadisch für ein Internetradio namens «Radio Blind Power». «Diese Struktur gibt mir Halt, sodass ich den Alkohol nicht mehr brauche», sagt Häni stolz.
Freundschaften können Altersdepression verhindern
Struktur in den Alltag bringen, Freundschaften pflegen und Hobbys finden: All dies seien Zutaten, die zwar banal klingen, aber umso wichtiger für eine gesunde Pensionszeit seien, sagt Geriater Thomas Münzer: «Wir sind soziale Wesen und das soziale Netzwerk ist ganz klar präventiv gegenüber Altersdepression und Suchterkrankungen.»
Je besser das soziale Netzwerk sei, desto besser seien die Chancen, dass man nicht in eine Sucht oder Depression abrutsche.