Die Pocken gehören zu den gefährlichsten Krankheiten des Menschen. In fast einem Drittel der Fälle enden sie tödlich; wer die Krankheit überlebt, bleibt meist von Narben entstellt. So war das jedenfalls bis ins Jahr 1979. Damals registrierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den letzten Fall einer Pockeninfektion weltweit. Dank weltweiter Impfprogramme war es der WHO gelungen, diese Infektionskrankheit des Menschen auszurotten, als einzige überhaupt.
Seither gibt es das Pockenvirus namens Variola in der freien Natur nicht mehr. Sehr wohl jedoch im Labor. In zwei Hochsicherheitslabors in den USA und Russland lässt die WHO diesen Krankheitserreger immer noch untersuchen, um im Fall eines neuen Ausbruchs gewappnet zu sein. Das sei sinnvoll, auch künftig, betont Inger Damon, die Leiterin des amerikanischen Pockenvirenlabors.Trotz grosser Fortschritte sei die Forschung nämlich noch nicht am Ziel.
Offene Fragen bei Wissenschaftlern
Was es noch zu tun gibt, schildert sie mit weiteren Forschern in der Zeitschrift «PLOS Pathogens» – zeitlich gerade richtig, kurz vor dem anstehenden WHO-Entscheid zur Zukunft der letzten Pockenviren der Welt. Bis heute sei es noch nicht gelungen, so Damon gegenüber Schweizer Radio SRF, eine Impfung zu entwickeln, die nicht nur wirksam, sondern auch gut verträglich ist – speziell auch für Leute mit geschwächtem Immunsystem.
Bis heute gibt es laut Damon zudem keine zuverlässigen Diagnose-Tests und Medikamente gegen Pocken. Und vielleicht könnten die letzten menschlichen Viren zudem helfen, verwandte tierische Formen wie die Affen- oder Kuhpocken besser zu verstehen.
Gefahr durch den Klimawandel?
Das klingt einleuchtend. Bloss: Wozu die Pocken bekämpfen? Es gibt die klassischen gefährlichen Pocken ja beim Menschen gar nicht mehr. Bisher gab es auch keine Anzeichen, dass die Seuche neu ausbrechen könnte. Vorstellbar wäre das aber schon, meinen Experten wie Andreas Nitsche vom deutschen Robert Koch-Institut in Berlin: Recht breit diskutiert werde in der Forschung vor allem ein Szenario: Pockenverseuchte Leichen, die allenfalls im Permafrostboden verborgen sind, könnten durch die Klimaerwärmung auftauen – und das frei gesetzte Virus könnte erneut Menschen anstecken.
Denkbar. Doch bis jetzt ist dieses Szenario nicht eingetreten. Und wie lange Pockenviren tief gefroren überhaupt überleben können, weiss man nicht. Ähnlich hypothetisch ist bis jetzt die Befürchtung, jemand könnte den publizierten Bauplan des Genoms des Variola-Virus missbrauchen und das Virus in böser Absicht «nachbauen».
Die Frage nach der Sicherheit
Viel gegenwärtiger erscheint hingegen eine andere Gefahr, die jüngst im Zusammenhang mit manipulierten Vogelgrippeviren diskutiert wurde: Die gefährlichen Forschungs-Viren könnten nämlich aus dem Labor entweichen – und eine Seuche, die man eigentlich verhindern will, würde erst recht entstehen. Diese Gefahr sei ernst zu nehmen, betont Donald Henderson von der Universität Pittsburgh in den USA.
Als langjähriger Leiter der historischen WHO-Antipockenkampagne kennt Henderson die Pocken und ihren Erreger auch aus der Praxis gut. Das Virus, sagt er, könne sich leicht via Tröpcheninfektion von Mensch zu Mensch verbreiten – und das hätte heute verheerende Folgen, denn nur noch wenige Menschen sind durch Impfungen wirksam geschützt.
Für und wider unter Fachleuten
Für Henderson ist daher klar: «Die WHO muss die Labor-Pockenviren nun vernichten.» Eigentlich habe sie das schon in den 1990er-Jahren vorgehabt, erinnert er sich. Doch dann habe sie die Vernichtung immer wieder aufgeschoben, weil Virenforscher und –forscherinnen sich erfolgreich für eine Erhaltung engagierten. Deren Position findet auch heute breiten Sukkurs unter Virologen. Die beiden Pockenvirenlabors, auch jenes in Russland, gelten nämlich als sehr sicher.
Zugleich, erklärt Andreas Nitsche vom Robert Koch-Institut, seien Variola-Viren schwierige Forschungsobjekte. Weil sie nur den Menschen infizieren, könne man sie im Tierversuch nur unbefriedigend erforschen. Mit anderen Worten: Ihre Erforschung braucht besonders viel Zeit.
Wie wird die WHO entscheiden?
Diese Zeit sollte sich die WHO nehmen, findet ein WHO-Beratungsgremium, dem Nitsche angehört. Die Pockenviren-Forschung sei immer noch gefragt, fand dieses Gremium bei seinem letzten Treffen laut Nitsche. Zwar brauche es sie nicht mehr für Impfungen und Tests, doch sehr wohl zur Entwicklung von wirksamen Medikamenten für den Fall, dass jemand doch noch Pocken bekomme.
Die Pockenerreger sind ausgestorben. Doch so wie es aussieht, existiert das Virus munter weiter. Es sei denn, die WHO sorgt in ihrer nächsten Sitzung für eine Überraschung.