«Einstein»: Archäologen haben oft den Ruf von Schreibtischtätern. Sie machen als experimentelle Archäologin genau das Gegenteil: Sie gehen raus, probieren aus. Braucht es die experimentelle Archäologie?
Kathrin Schäppi: Absolut, sie ist eine logische Fortsetzung der Ausgrabungen. Ohne sie hätten wir nicht so ein lebendiges Bild von der Vergangenheit. In der experimentellen Archäologie geht es darum zu klären, wie Fundgegenstände hergestellt oder verwendet worden sind. So können Hypothesen praktisch überprüft werden, die meist am Schreibtisch entstanden sind. Wenn man mehr wissen will über Leben und Arbeiten der Menschen in der Vergangenheit, dann muss man meiner Meinung nach ausprobieren.
Was probieren Sie gerade aus?
Ich beschäftige mich besonders mit spätbronzezeitlichen Bronzemessern, wie sie 1060 bis 850 vor Christus hergestellt wurden – das war die Zeit der Pfahlbauten. Bronze war damals das Hauptmetall, Eisen kannte man noch nicht. Diese Bronzemesser wurden zwar immer wieder in Publikationen beschrieben und es wurde gemutmasst, wie sie hergestellt wurden. Ich wollte aber genau wissen: Welche Fähigkeiten braucht man dafür? Welche Werkzeuge, Materialien und Kenntnisse? Also habe ich die Messer selbst nachgearbeitet, alles dokumentiert und meine Messer mit den Originalen verglichen.
Zu welchem Schluss kommen Sie?
Die Herstellung der Messer ist eine sehr effiziente und ausgeklügelte Abfolge von Arbeitsschritten. Der Guss, das Hämmern, aber auch das Verzieren der Messer erfordert viel Geschickt und Übung. Und natürlich das Wissen um die benutzten Materialien. Bei meiner Arbeit wird mir immer wieder bewusst, dass unser heutiges technologisches Wissen auf den Erkenntnissen und Entwicklungen aller Generationen vor uns beruht. Zu jeder Zeit hat der Mensch es geschafft, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln funktionstüchtige, aber auch optisch ansprechende Produkte herzustellen. Die bronzezeitlichen Gusstechniken sind nicht primitiver als modernste, heutige Gussverfahren.
Welche anderen Beispiele gibt es?
Furore machte der Norweger Thor Heyerdahl, als er 1947 mit einem Floss aus Balsaholz – genannt Kon-Tiki – den Pazifik überquerte. Er hat damit wissenschaftlich nachvollziehbar dargelegt, dass die Besiedlung Polynesiens von Südamerika aus möglich ist. Sein Experiment belebte die Forschung zur Seefahrt in der Urgeschichte und liess polynesische Legenden über von Osten kommende Hellhäuter in neuem Licht erscheinen.
Ein anderes Beispiel ist die Klinge des Beils der berühmten Gletschermumie «Ötzi». Sie besteht aus 99-prozentigem Kupfer. Kupfer ist grundsätzlich ein relativ weiches Material. Eine Theorie besagte, dass es sich darum um einen reinen Kultgegenstand handelt. Versuche mit Nachbauten haben jedoch bewiesen, dass damit das Fällen eines Baumes kein Problem darstellt.
Wie kamen Sie zur experimentellen Archäologie?
Ich fand Archäologie immer spannend und war fasziniert vom Handwerk, wollte wissen, wie etwas hergestellt ist. Dann habe ich 1990 das Zürcher Pfahlbauland auf der Saffainsel am Zürcher Mythenquai besucht. Später habe ich in den Ferien auf archäologischen Grabungen gearbeitet, war am Wochenende am Bronzegiessen und habe mich in allerlei urgeschichtlichen Techniken versucht. Diese Vielfältigkeit von der Ausgrabung über die Auswertung bis hin zur Überprüfung mit Experimenten ist einfach toll.
Wer arbeitet in der experimentellen Archäologie?
Es ist eine sehr vielseitige Szene – das ist das Spannende. Es gibt Menschen, die sich mit Textilien beschäftigen, andere mit Schwertherstellung oder Hausnachbauten. Die Durchführung archäologischer Experimente ist fast immer das Zusammenspiel verschiedener Protagonisten: Vom Archäologen, der eine Fragestellung hat und ein Projekt auf die Beine stellt, von Analytikern, welche die Funde mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen, von spezialisierten Handwerkern, die Werkzeuge herstellen oder Versuche durchführen und vielen anderen.Es ist ein sehr interdisziplinäres Feld.
Der experimentellen Archäologie hängt leicht der Ruf der «Hobby-Archäologie» an, kennen Sie das aus Ihrem Alltag?
Wir haben kürzlich eine Umfrage bei Universitäten, Museen und Kantonsarchäologien gemacht und sind selbst überrascht, dass die Akzeptanz sehr gross ist. Aber ja, experimentelle Archäologie wird gern als Schlagwort für jegliche Aktivität verwendet, die mit Ausprobieren, Erlebnis, Vorführung oder Vermittlung zu tun hat. Nehmen Sie Mittelaltermärkte: Die Gegenstände, die verkauft werden, die Kleidung, die dort getragen wird – das hat oft nicht viel mit Mittelalter zu tun. Ich habe nichts gegen solche Veranstaltungen, aber man darf nicht so tun, als sei all das durch die Archäologie bewiesen. Für uns muss immer die Nachvollziehbarkeit gewährleistet sein, das macht ein wissenschaftliches Experiment aus.
Aber ist es nicht auch toll, wenn sich die Menschen mit archäologischen Fragestellungen beschäftigen?
Es können natürlich auch ganz spannende Synergien entstehen. Reenactors betreiben zum Teil wirkliche Grundlagenforschung, wenn sie über lange Jahre eine bestimmte Epoche mithilfe damaliger Gegenstände wie Kleidung, Werkzeug, Möbeln, Waffen oder Rüstungen darstellen. Sie können ihre Erfahrungen über die Funktionalität oder die Abnutzung von Repliken in die Wissenschaft einbringen können.
Gibt es etwas, was Sie unbedingt einmal ausprobieren wollen?
Ja, das ist aber keine experimentelle Untersuchung, sondern eher ein handwerkliches Projekt. Ich möchte irgendwann ein Kleid von A bis Z selber machen: Die Wolle waschen und mit einer Handspindel spinnen, auf einem Gewichtswebstuhl weben, den Stoff mit Pflanzenmaterialien färben und dann mit der Hand nähen. Je länger ich mich damit auseinandersetze, wie etwas hergestellt worden ist, desto faszinierter bin ich von den Leistungen und Fertigkeiten unserer Vorfahren.