«Einstein»: Direkt nach dem Unglück haben Sie live berichtet. War es schwierig an Informationen zu kommen?
Thomas Stalder: In dieser Ausnahmesituation mit Seebeben, Tsunami und Reaktor-Unfall war auch die Informationsbeschaffung nicht einfach. Es gab Unklarheiten und sich widersprechende Meldungen, zudem wurden oft Fachbegriffe verwendet. Daher war es wichtig, die Informationen zu sammeln und zu analysieren. Zum Glück hatte ich da tolle Unterstützung. Wir waren zu zweit und hatten innerhalb weniger Stunden eine Art privates Netzwerk aufgebaut. Befreundete Ingenieure, Naturwissenschaftler und Ärzte auf der ganzen Welt waren beteiligt. Bei Unklarheiten oder zur Einschätzung konnten wir uns an sie wenden und dank der Zeitverschiebung kamen aus Japan, Europa oder den USA rund um die Uhr Rückmeldungen.
Hatten Sie Angst?
Angst ist das falsche Wort. Ich hatte grossen Respekt und oft etwas wenig Schlaf ...
In Ihrer Berichterstattung haben Sie immer betont, wie ruhig und gefasst die Menschen nach der Katastrophe waren. War das schwierig für Sie, als Schweizer, der wahrscheinlich einen anderen Umgang mit solchen Situationen gewohnt ist?
Ich war vor 20 Jahren das erste Mal in Japan und reiste vor meinem Umzug 2011 regelmässig hierher. Mit Land und Kultur bin ich daher etwas vertraut. Ruhe zu bewahren war das einzig richtige. Eine Schwierigkeit war sicher, dass man hier im Land immer Erdbeben, Tsunami und Reaktor-Unfall im Auge hatte, während sich Europa leider praktisch nur auf das AKW konzentrierte. Entsprechend unterschiedlich wurde die Sache wohl wahrgenommen.
Die Japaner leben unter einer ständigen Erdbebenbedrohung. Ist die Nation einfach katastrophenerfahren?
Erdbeben gehören zu Japan, entsprechend wird gebaut und entsprechend wird geübt. Jedes Jahr gibt es den «Erdbeben-Übungstag». Auch kennt man die Gefahr von Tsunamis. Klar weiss man nun, dass man die Sache unterschätzt hat und der Tsunami forderte viele Tote. Doch ohne die bestehende Vorbereitung wäre es wohl noch schlimmer gekommen.
Reisen Sie persönlich in die verseuchte Region – oder müssen Sie für die Berichterstattung?
Ja, ich war nach der Reaktor-Katastrophe einige Male in der Provinz Fukushima. Doch Fukushima ist gross, entsprechend ist nicht die ganze Provinz verstrahlt. Es gibt menschenleere Orte in und in der Nähe der 20- Kilometer-Sperrzone, doch es gibt auch grosse Regionen, die unbedenklich bereist werden können.
Die WHO hat gerade einen Bericht herausgebracht, nachdem das Krebsrisiko nur in der Umgebung des Reaktors leicht gestiegen sei. Sie redeten für den «Einstein»-Beitrag mit Menschen und Ärzten. Decken sich die Ergebnisse des Reports mit Ihren Erfahrungen?
Es gibt bei der radioaktiven Strahlung nicht nur schwarz und weiss. Es gibt eine grosse und breite Graustufe, und das macht die Sache nicht einfach. Mit sehr kleinen Strahlenmengen kann der Körper umgehen, bei sehr hohen Dosen stirbt man, da sind sich die Wissenschaftler einig. Doch wo genau diese Grenze liegt, was zwischen der «nicht gefährlichen» und der «gefährlichen» Dosis im Körper geschieht und wie er damit umgehen kann, das ist umstritten. Je nach Ausgangslage und Daten kommen die Wissenschaftler zu unterschiedlichen Ergebnisse.
Wie gehen die Menschen mit der Strahlenangst um? Kaufen sie nun kein Gemüse mehr aus Japan?
Japan ist ein grosses Land. Von Hokkaido bis Okinawa sind es rund 2500 Kilometer, daher gibt es sehr viele Regionen, in welchen man unbedenklich Leben und auch Gemüse anpflanzen kann. Die Ausbreitung der radioaktiven Wolke war nicht auf die Provinz Fukushima begrenzt. Es gibt Regionen in Fukushima, die kaum belastet sind, es gibt aber auch Orte in anderen Provinzen, welche sogenannte Hotspots – also Orte mit erhöhter Strahlung haben. Je nach Wetter und Wind wurden die radioaktiven Isotope unterschiedlich abgelagert.
Wie geht es den Bauern in der Region Fukushima?
Für die Bauern in Fukushima ist das Leben sicher nicht leicht. Viele versuchen trotzdem ihrem früheren Beruf nachzugehen und beim Verkauf weisen sie jeweils darauf hin, dass ihre Produkte auf Radioaktivität überprüft worden seien.
Es heisst, die Aufräumarbeiten werden Jahrzehnte dauern – wo steht das Land heute?
Der Rückbau eines intakten AKWs dauert Jahre und entsprechend wird es bei Fukushima mit mehreren lecken Reaktor-Blöcken unterschiedlicher Bauart länger dauern. Man steht daher erst am Anfang einer jahrzehntelangen Arbeit. Viele Probleme sind noch nicht gelöst.
Die Anti-AKW-Bewegung in Japan ist nach Fukushima erstarkt, heute hört man kaum noch etwas. Existiert sie noch?
Die Bewegung gibt es zwar noch, doch in den vergangen Monaten ist es ruhig geworden. Auch bei den wöchentlichen Protesten vor dem Sitz des Ministerpräsidenten nehmen derzeit nur wenige Leute teil. Ob sich das ändert, hängt unter anderem von der künftigen Energiepolitik ab. Seit Juli letztes Jahr sind zwei der 50 funktionstüchigen AKWs wieder Betrieb. Vor einem weiteren Neustart gibt es Sicherheitschecks. Ausserdem gibt es Diskussionen um Erdspalten auf den Geländen der AKWs. Die Checks werden noch mehrere Monate dauern. Von daher ist die Situation schon nicht mehr so wie vor dem 11. März 2011.