Liang Bua heisst wörtlich «kühle Höhle». Sie liegt auf der indonesischen Insel Flores, ist hoch gewölbt und luftig. Dort grub 2004 ein australisch-indonesisches Anthropologen-Team in sechs Metern Tiefe ein fast vollständige Skelett aus. Das weibliche Wesen mass nur einen Meter, hatte ein Gehirn so gross wie ein Schimpanse und verwendete dennoch Steinwerkzeuge. Weil es so klein war, bekam es den Spitznamen «Hobbit». Offiziell verkündete das Team die Entdeckung einer bis dahin unbekannten Menschenart und nannte sie «Homo floresiensis». Seither kratzen sich Anthropologen die Köpfe.
Ein mysteriöser Zeitgenosse von Homo sapiens
Der prominente britische Anthropologe Chris Stringer durfte damals einen frühen Blick auf den Schädel werfen und hielt ihn auf den ersten Blick für ein zwei Millionen Jahre altes Exemplar. Doch dann staunte er sehr: «Als ich erfuhr, dieser Schädel sei nicht einmal 20'000 Jahre alt, da lief es mir kalt über den Rücken. Wäre es 1.April gewesen, hätte ich das für einen Scherz gehalten.»
Der Schock ist verständlich. Denn bis dahin meinte man, dass seit dem Aussterben der Neandertaler vor etwa 30'000 Jahren nur wir – also der Homo sapiens – auf der Erde wandelte. In der aktuellen Ausgabe der Fachschrift «Nature» fasste Chris Stringer den Stand der Dinge nach zehn Jahren Forschung zusammen.
Der Hobbit ist in der Tat einzigartig. Denn er vereint Merkmale von alten Vorfahren von vor Millionen von Jahren mit modernen. «Die Kieferknochen sind beispielsweise auffallend verdickt, wie man das nur von sehr alten Vormenschen kennt», so Chris Stringer. Doch die Zähne und das flache Gesicht könnten von einem Homo sapiens stammen. Ähnlich inkongruent sind Füsse und Hände.
Der Hobbit im Kreuzfeuer
Einige Forscher bezweifelten von Anfang an, dass es sich bei LB1 – so heisst das Skelett formell – um eine neue Menschenart handelte. Sie vertreten die Krankheitshypothese und meinen, LB1 sei das Skelett eines missgebildeten, moderner Homo sapiens. Robert Eckhardt von der Pennsylvania State University und Kollegen präsentierten in einer Studie im August 2014 ihre jüngste Diagnose: Down Syndrom (Trisomie 21). Ihr Hauptargument stützt sich auf die Asymmetrie des Schädels, insbesondere des Gesichts. «Wenn man Fotos von Menschen mit Down Syndrom betrachtet», so Robert Eckhardt, «sieht man deutlich: Die Asymmetrie ist am geringsten in der Stirnregion, etwas stärker in der Mitte des Gesichts und am ausgeprägtesten in der Kieferregion.» Der Schädel von LB1 zeige die exakt gleichen Charakteristiken.
Kritiker der Studie führen an: Die Asymmetrie sei nicht verwunderlich. Immerhin lag der nicht versteinerte Schädel Tausende Jahre in der Erde vergraben. Einzelne Merkmale könne man zweifellos durch Missbildung erklären, kommentiert Chris Stringer. «Aber kein Krankheitsbild passt auf die Gesamtheit der anatomischen Eigenheiten des Hobbit». Der Expertenstreit wird wohl erst dann beigelegt sein, wenn man mindestens noch ein zweites, gut erhaltenes Skelett findet.
Out of Africa
Eines können die Proponenten des Hobbits als neue Menschenart bisher nicht schlüssig erklären: Wie kamen die Vorfahren von Homo floresiensis nach Südostasien? Gewiss, sie verliessen Afrika. Doch wann? Eine Möglichkeit wäre: Der Frühmensch Homo erectus wanderte in der ersten Out-of-Africa-Welle vor 1,8 Millionen Jahren aus und erreichte unter anderem Flores. Dort blieb er, – und schrumpfte. Das Phänomen der so genannten «Inselverzwergung», als Reaktion auf knappere Ressourcen, kennt man von Tieren. Doch Verzwergung in Verbindung mit anatomischer Rückentwicklung etwa der Kiefer oder Handgelenke? Das wäre etwas ganz Neues.
Chris Stringer hält eine andere Theorie für möglich, die ihm vor dem Fund von Homo floresiensis nie in den Sinn gekommen wäre. Demnach schlugen sich noch viel frühere Vorfahren des Menschen – Homo habilis oder sogar Vormenschen wie die Australopithecinen – vor mehr als zwei Millionen Jahren bis nach Flores durch. «Ihre Hirn- und Körpergrösse ist dem Homo floresiensis sehr ähnlich. Sie hätten also nicht schrumpfen müssen.»
Chaos im Menschenstammbaum
Diese Spekulation stellt freilich die lineare Chronologie der Menschheitsgeschichte in Frage. Bisher dachte man: Auf die Vormenschen – die Australopithecinen – folgten die Frühmenschen, wie Homo habilis und Homo erectus. Erst vor 200'000 Jahren entstanden schliesslich wir, der Homo sapiens, der die Welt kolonisierte. Den verschiedenen Frühformen werden auch immer bestimmte Merkmale – von Schädelgrösse bis Fussknochenarchitektur – zugeordnet. Homo floresiensis demonstriert: Unsere Geschichte ist nicht ganz so ordentlich und geradlinig wie wir glauben.
Die einfachste Methode zur Klärung der komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse wäre eine Analyse des Erbguts. Mehrere Versuche sind bisher fehlgeschlagen. Die Forscher sind auch nicht optimistisch. Denn in tropischen Klima intakte, alte DNA zu finden, müsste schon ein ausserordentlicher Glücksfall sein.