Ein herbstlicher Morgen in St. Moritz. Das Sonnenlicht durchflutet die letzten Nebelschwaden, die im Tal hängen. Ich treffe mich auf dem Muottas Muragl, dem St. Moritzer Hausberg, mit Anne-Marie Flammersfeld. Während ich gemütlich mit der Bahn hochfahre, rennt sie. Auf einer Metalltreppe, entlang der Bahn. 4'000 Stufen. 700 Höhenmeter. Für die 36-Jährige ein kleiner sportlicher Happen am Morgen. «Ja, das war ein Aufwärmen. Mehr aber auch nicht», sagt die 36-Jährige grinsend.
Durchfall, Übelkeit, Gluthitze – kein Grund zum Aufgeben
Ein grösserer Brocken war da der grosse Wüstenlauf vor zwei Jahren – das «4 Deserts Race». 1000 Kilometer durch die extremsten Wüstenlandschaften der Welt. Von der Sahara über die Wüste Gobi und die Atacama-Wüste bis hin zur Antarktis. Verteilt auf ein Jahr wartete auf die Athletin in jeder dieser Wüsten je ein Rennen von 250 Kilometern. Flammersfeld gewann sie alle. Die erste Frau überhaupt, die das schaffte.
Teilweise lief sie bis zu 80 Kilometer am Tag – eine körperliche Tortur. Vor allem, wenn man von einem Magendarm-Virus geschwächt ist, wie es bei ihr in der flirrenden Hitze der Wüste Gobi der Fall war. «Ich habe mir in diesem Moment überlegt, mich einfach hinzusetzen und zu warten, bis jemand vorbeikommt. Aber ich entschied mich dann nicht zu warten, sondern einfach langsam weiterzugehen. Schritt für Schritt.»
Von 0 auf 100
Zum Extremsport kam die diplomierte Sportwissenschaftlerin erst vor einigen Jahren. Aber Sport an sich begleitet sie seit Kindesbeinen. Vom Kunstturnen über Tennis und Skifahren bis schliesslich hin zum Handball, das sie lange aktiv spielte. Das Laufen – auch in den Bergen – entdeckte die gebürtige Duisburgerin erst richtig, als sie 2006 nach St. Moritz zog, um dort als Personaltrainerin zu arbeiten: «In St. Moritz und Umgebung gibt es keinen Handball-Verein, also begann ich mit Laufen.»
Flammersfeld hatte gerade ihre ersten beiden Marathons geschafft, als es 2010 zu einem wegweisenden Erlebnis in Argentinien kam. Sie erfuhr vom «4 Deserts Race» und dass noch keine deutsche Frau alle vier Läufe dieses Extrem-Rennens gemeistert hatte. Das war Grund genug: «Ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch und liebe es, mir Ziele zu setzen.» Sie wagte zu Beginn niemandem davon zu erzählen, weil sie wirklich sicher sein wollte, dass sie sich dieser extremen Herausforderung stellen will. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie sich daran erinnert, wie sie ihrer Mutter später vom Vorhaben erzählte: «Sie meinte nur: ‹Ach schön, ja, das ist ja toll. Und, wie ist das Wetter bei Euch?›»
Die 36-Jährige schuftete ein Jahr auf ihr Ziel hin, steigerte ihren Trainingsumfang auf bis zu 160 Laufkilometer pro Woche – quer durch die Engadiner Berglandschaft. Pro Trainingseinheit lief sie 20 bis 40 Kilometer. Ja, sie stellte sogar einen Stepper in die Sauna, um die Hitze der Wüsten zu simulieren.
Die persönlichen Grenzen überschreiten
Zu extrem findet sie ihre Höchstleistungen nicht. «Man muss sich vorstellen, dass unsere Vorfahren noch vor 2000 Jahren täglich 30 bis 40 Kilometer gelaufen sind. Das steckt noch in uns.» In ihr offenbar ganz besonders. Aber da ist mehr als nur Talent. Sie schafft es, ihre persönlichen und körperlichen Grenzen zu verschieben. «Wenn ich die Grenze einmal verschoben habe, bin ich natürlich immer wieder in der Lage sie weiter zu verrücken. So bin ich mittlerweile auf einem hohen Niveau angekommen.» Aber wo ihre Grenze, die endgültige, wirklich sei, dass wisse sie bis heute nicht.
Hallo Wüstenrennsemmel!
Dabei sei alles eine Kopfsache. «Die Beine bleiben ja nie von alleine stehen. Es ist letzten Endes der Kopf, der sagt, so jetzt reicht’s aber mal. Jetzt geht’s nicht mehr weiter.» Die Extremläuferin kennt diese Momente zwar nur zu gut, hat aber gelernt, sie zu überwinden. Mit einem – im ersten Moment – etwas bizarr anmutenden Trick. Sie stellt sich Fantasiefiguren vor und spricht mit ihnen.
So wurde sie nach einer dreistündigen Krise beim Wüstenlauf in der Sahara plötzlich von einer Wüstenrennsemmel begleitet. Eine Semmel mit Beinen und Armen aus Zahnstochern. Sie habe laut lachen müssen, über diese Kreation ihrer Fantasie, erinnert sich Flammersfeld: «Wenn sich meine Gedanken nur darum drehen, wie anstrengend es gerade ist, dann produziere ich negative Gefühle. Die bringen mich nicht weiter. Indem ich mit solchen Fantasiefiguren kommuniziere, breche ich diesen Negativkreislauf.» Meistens schafft sie es, sich so wieder in eine positive und humorvolle Stimmung zu versetzen. «So werden positive Botenstoffe freigesetzt, die helfen, die Krise zu überwinden», erklärt die Sportwissenschaftlerin.
Von ganz unten bis nach ganz oben
Nach ihrem Wüsten-Effort hat die 36-Jährige sogenannte Bottom Ups für sich entdeckt. Vom tiefsten Punkt eines Landes auf den höchsten gelangen. Beispielsweise von Ascona (193 m.ü.M.) bis auf die Dufourspitze (4‘643 m.ü.M). In fünf Tagen 210 Kilometer und über 9‘400 Höhenmeter. Das war im letzten Jahr.
Im Juli dieses Jahres startete sie ihr nächstes Projekt: «Bottom Up Seven Volcanic Summits». Das Ziel: Die jeweils höchsten Vulkane aller sieben Kontinente zu bezwingen. Auch hier, immer vom tiefsten Punkt des jeweiligen Landes aus. Natürlich nur mit reiner Muskelkraft: Zu Fuss, auf dem Rad, mit dem Kanu oder mit Skiern. Der erste Vulkan ist bezwungen. Es ging vom Kaspischen Meer auf den über 5600 Meter hohen Mount Damavand im Iran.
Das war aber nur eine von vielen Extremleistungen im laufenden Jahr. Von der Wettkampf-Kadenz dieser Frau können gewöhnliche Marathonläufer, die normalerweise zwei Marathons pro Jahr laufen, nur träumen. Sie gewann in diesem Jahr schon den Transylvania Trail (106 Kilometer), den Zugspitz Trail (100 Kilometer) und den UVU North Pole Marathon (42 Kilometer). Und dieser Tage fliegt sie in die südamerikanische Atacama-Wüste, um dort einen weiteren Extrem-Marathon zu laufen.
Das töne schwer nach einer Sucht, stelle ich im Gespräch fest. Flammersfeld winkt ab. «Eine Sucht wäre es dann, wenn ich auf keine Erkältung oder Grippe achten würde. Ich war vor einigen Tagen erkältet und konnte problemlos nicht trainieren.» Der Extremsport sei für sie eher zu einer Gewohnheit geworden, zu etwas alltäglichem, an das sich ihr Körper gewöhnt habe.
Will man überhaupt «die härteste Frau der Welt sein?»
Bei so vielen Extremleistungen scheint der Titel «härteste Frau der Welt» gar nicht so verkehrt zu sein. Ein Titel, der in den Medien immer wieder Verwendung findet. Flammersfeld selber hätte ihn nicht für sich gewählt. «Hart tönt auch immer sehr unflexibel und das bin ich überhaupt nicht.» Sie fühle sich eher als geschmeidige Frau, als Person, die sich in alle Richtungen bewegen könne. Sie wolle keine verbissene Sportlerin sein, die krampfhaft versuche, mit immer neuen Höchstleistungen zu punkten. «Ich mache das wirklich gerne, sonst würde ich es gar nicht machen.»
Man nimmt es ihr ab. Und deshalb überrascht es mich beim Abschied nicht, dass sie auf meine Frage, ob wir gemeinsam mit der Bahn nach unten fahren, erwidert: «Danke, aber ich renne jetzt noch etwas in die Höhe», lacht und anfügt: «Erst dann geht‘s wieder ins Tal – natürlich zu Fuss.»