Zum Inhalt springen
Video
Die Folgen der MEI für den Forschungsplatz Schweiz (nano/3sat)
Aus Einstein vom 05.02.2015.
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 31 Sekunden.

Mensch Schweizer Forscher: Die Angst vor dem Insel-Dasein bleibt

Welche Spuren hat das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vor einem Jahr in der Schweizer Forschung hinterlassen? Zwei Forscher erzählen, was sich für sie nach der Annahme änderte. Und wie die Lage heute ist.

Patrick Maletinsky ist Quantenphysiker mit einer Bilderbuch-Karriere: Studium und Doktorat an der ETH Zürich, danach Postdoc in Harvard und seit 2012 Professor an der Universität Basel. Vor einem Jahr feilte der 35-jährige Schweizer an seiner Bewerbung für einen der begehrten ERC-Starting-Grants der EU. Dieses Förderprogramm bringt Forschungsgelder. Und jede Menge Renommee. «Als Karriereschritt ist das schon sehr, sehr wichtig», sagt Maletinsky.

Doch dann kam alles anders. Am 9. Februar 2014 sagten die Schweizer Ja zur Initiative gegen Masseneinwanderung (MEI). Und damit zu Kontingenten, die die Zuwanderung ab 2017 begrenzen sollen. Auch aus Europa.

Die Schweiz wird zum Drittstaat

Die Reaktion der EU kam prompt. Sie traf die Wissenschaft. Und damit ein Aushängeschild der Schweiz, das es ohne Internationalität nicht gäbe. Das Land wurde beim weltweit grössten und mit rund 80 Milliarden Euro dotierten Forschungsprogramm «Horizon 2020» zum Drittstaat degradiert. Die Konsequenzen: keine EU-Grants mehr, keine EU-Gelder, Ausschluss aus wichtigen EU-Gremien.

Patrick Maletinsky in seinem Labor
Legende: Patrick Maletinsky konnte sich nicht um Förderung bei der EU bewerben, bekam aber Geld aus einem Schweizer Grant. SRF

Patrick Maletinsky war enttäuscht. Und er war längst nicht der einzige. Auch Hans Wernher van de Venn, Professor für Robotik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) bekam die Folgen des 9. Februars zu spüren.

Er entwickelte seine Roboter bislang in Zusammenarbeit mit Forschergruppen aus ganz Europa. Rund 50 Prozent seiner Forschungsgelder kamen von der EU. Vor dem 9. Februar hatten ihn sechs Partner aus EU-Ländern für neue Kooperationsprojekte angefragt. Danach sind alle sechs Partner abgesprungen. «Denen war die Situation einfach zu unsicher», sagt van de Venn. In einem anderen Projekt, das kurz vor der Eingabe in Brüssel stand, gab er die Position des Koordinators sicherheitshalber ab.

Grosse Verunsicherung

Van de Venn meldete das auf einem Portal, das extra von der Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen (CRUS) und dem Schweizer Nationalfonds (SNF) für benachteiligte Forscher eingerichtet worden war. Ob ERC-Grants oder abgesprungene Partner – etwa 120 Meldungen gingen ein. «Diese gespürte oder reelle Isolierung von Europa hat die Hochschullandschaft in eine grosse Verunsicherung versetzt», fasst Antonio Loprieno, Präsident der CRUS und Rektor der Universität Basel, die Reaktionen zusammen.

Licht am Horizont

Wernher van de Venn im Porträtfoto
Legende: Alle sechs Partner sprangen ab: Wernher van de Venn bekam die Folgen der Masseneinwanderungsinitiative deutlich zu spüren. SRF

Im Herbst gab es dann gute Nachrichten aus Brüssel. Die Tür zum Forschungsprogramm Horizon 2020 ging zur Hälfte wieder auf; die Optionen sind damit klar: Wissenschaftler in der Schweiz können bei EU-Projekten mitmachen, sie können sie auch koordinieren. Die Finanzierung steht. Die Schweiz zahlt direkt. Auch um ERC-Grants können sich Forscher wieder bewerben; die Gelder dafür kommen von der EU. Das Reglement gilt jedoch vorerst nur bis Ende 2016. Eine Art Provisorium.

Auf dem Forschungsplatz Schweiz sei damit etwas Ruhe eingekehrt, sagt Marion Tobler von Euresaerch, eine Institution des Bundes, die Forscher bei der Eingabe von EU-Projekten berät. Und auch Loprieno ist froh über die Zwischenlösung. «Aber das grosse Fragezeichen an unserem Horizont bleibt.» Wissenschaft funktioniere schliesslich nachhaltig und langfristig. «Die Vorbehalte bei unseren Projektpartnern in der EU bestehen weiterhin», bestätigt denn auch Robotik-Spezialist van de Venn.

Die Vorbehalte bei unseren Projektpartnern in der EU bestehen weiterhin.
Autor: Hans Wernher van de Venn

Solche Vorbehalte kennt aber längst nicht jeder Wissenschaftler. Quantenphysiker Maletinsky ist beispielsweise erst kürzlich wieder als Partner für ein grosses EU-Projekt angefragt worden. Für seine Bewerbung um den ERC-Grant kam die Zwischenlösung jedoch zu spät. Die Bewerbungsfrist war abgelaufen. Um die Verluste abzufedern, hatte der SNF aber ein nationales Stipendium aus dem Boden gestampft. Vor kurzem konnten sich Maletinsky und 26 andere Jungforscher über die Zusage und 1,5 Millionen Franken freuen. Finanziell entspricht das dem Budget eines ERC-Starting-Grants. «Ich bin sehr dankbar», sagt Maletinsky. Was jedoch fehle, sei das Renommee.

Schweizer Grants: weniger Renommee

Horizon 2020

Box aufklappen Box zuklappen

«Horizon 2020» ist ein Instrument der EU zur Förderung von Wissenschaft und Technologie. Das Spektrum reicht dabei von der Grundlagenforschung bis zu marktnahen Innovationen. Im Zentrum stehen Kooperationen in den Schlüsselbereichen Biomedizin, Technik, Industrie und Sozioökonomie.

Den ERC-Grant kennt im Ausland jeder, den SNF-Grant nur die wenigsten. Mit einem ERC-Grant lassen sich ausländische Mitarbeiter in die Schweiz locken, neue EU-Fördertöpfe anzapfen, neue Netzwerke knüpfen. Was Maletinsky und Kollegen mit der nationalen Förderung womöglich entgeht, lässt sich nicht beziffern. Ob die Schweizer Forscher 2014 weniger EU-Projekte und Fördergelder eingeworben haben, dagegen schon.

Auch wenn Hochschulen und Bund derzeit noch zählen, wagt CRUS-Präsident Loprieno eine erste Bilanz: «Es ist fair zu sagen, dass die finanziellen Folgen sich in Grenzen gehalten haben, weil der SNF und auch der Bundesrat relativ rasch für einige Programme Ersatzlösungen gefunden haben. Aber in der Wissenschaft zählt die Atmosphäre, zählt die Symbolik manchmal fast so viel wie das Geld.»

Wie es mit Horizon 2020 und dem Forschungsplatz Schweiz 2017 weiter geht, hängt jetzt allein von der Politik und der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative ab. Die Wissenschaftler fürchten längst nicht nur den neuerlichen Drittstaat-Status. Sie fürchten auch den Kern der Initiative, nämlich Kontigente für Forscher aus dem Ausland. Maletinsky: «Wenn die dazu führt, dass es für uns schwerer wird, Talente aus dem Ausland zu uns in die Labore zu holen, dann könnte das katastrophal sein.»

Meistgelesene Artikel