Libyen, Juli 2011. Mehr als 200 oppositionelle Gruppen kämpfen gegen die Truppen von Muammar al-Gaddafi. Mitten im damaligen Bürgerkrieg reiste der Anthropologe Brian McQuinn mit einem Hilfsgüterschiff in die Rebellenhochburg Misrata.
Viele Wissenschaftler würden Kriege nur aus der Ferne erforschen oder im Nachhinein, sagt Brian McQuinn. Er habe näher heran wollen und besuchte deshalb verschiedene Rebellengruppen. Dabei kam ihm seine langjährige Erfahrung bei humanitären Einsätzen zugute.
Die Studie zum Thema
Er führte Gespräche sowohl mit Kämpfern als auch mit jungen Männern, die die Kämpfer nur logistisch unterstützten, etwa als Mechaniker oder Ambulanz-Fahrer. Alle Männer seien sehr offen zu ihm gewesen: «Die Kämpfer wollten ihre Geschichte erzählen, damit der Rest der Welt erfährt, was sie durchmachen mussten, um Gaddafis Sicherheitskräfte zu bekämpfen».
Die Kampftruppe wird wichtiger als die Familie
Für seine Studie fragte Brian McQuinn die Männer, wie stark sie sich mit verschiedenen anderen Menschen identifizierten. Ihrer eigenen Familie, ihrer eigenen Kampftruppe aber auch fremden Truppen, die gegen Gaddafis Armee kämpften, fühlten sich fast alle sehr nahe. Nur ganz wenige hingegen identifizierten sich mit Libyern, die sich nicht am Kampf gegen Gaddafi beteiligten.
Wenn die Männer angeben sollten, mit welcher Gruppe sie sich am meisten identifizierten, dann wählte ein Drittel der Männer die eigene Kampftruppe, noch vor der eigenen Familie. Bei den Kämpfern an der Front, also ohne die Mechaniker und Ambulanzfahrer, war es sogar fast die Hälfte. «Der gemeinsame Kampf hat die Männer so stark zusammengeschweisst, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl sogar die eigene Familie aussticht», schliesst Brian McQuinn aus seinen Resultaten.
Fast zärtliche Beziehungen
Dass viele Menschen ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, wenn sie zusammen durch schwierige Zeiten gehen, mag wenig erstaunen. Und dass Kriege solche Umstände begünstigen, ebenfalls. Die Kampftruppe als eingeschworene Gemeinschaft ist beinahe schon ein Klischee geworden. Doch wirklich vor Ort untersucht – zumal in einem Bürgerkrieg – habe das bisher kaum jemand, sagt Brain McQuinn.
Erstaunlich war, wie schnell die kleinen Kampftruppen in Libyen die Familie als wichtigste Bezugs-Gruppe ablösten. Es brauchte dafür nur wenige Monate. Überrascht habe ihn zudem die Intimität, fast Zärtlichkeit der Beziehungen innerhalb der Kampftruppe, auch unter den schwierigsten Bedingungen.
Was eine Übertragung dieser Ergebnisse auf andere kriegerische Gruppen angeht, wie aktuell etwa auf die Kämpfer vom sogenannten Islamischen Staat, bleibt Brian McQuinn vorsichtig. Aber er denke, seine Resultate liessen sich wohl durchaus auf andere nichtstaatliche Kampftruppen ausweiten.
Bessere Chancen im Friedensprozess
Dieses Wissen sei wichtig, denn je mehr Einsichten man in den Zusammenhalt von bewaffneten Gruppen bekomme, desto besser könne man mit ihnen allenfalls verhandeln, desto besser sie im Zuge eines anschliessenden Friedensprozesses auch wieder demobilisieren.
Doch so weit ist es in Libyen noch nicht. Noch streiten sich die verschiedenen Gruppen um die Macht im Land, keine ist gross genug, um das Land alleine zu regieren. Eine Einigung werde Zeit brauchen, meint auch Brian McQuinn.