- Gut zwei Milliarden Franken werden in der Schweiz Jahr für Jahr aufs Spiel gesetzt. Online-Games nicht eingerechnet.
- Traditionelle Anbieter wie Casinos oder Lotterien unterliegen strengen Vorschriften. Sie sind in Präventionsmassnahmen eingebunden und müssen Abgaben entrichten, die in AHV, Kultur, Soziales und Sport fliessen.
- Der boomende Online-Bereich ist erst seit Anfang Jahr mit dem neuen Geldspielgesetz geregelt. Für Suchtgefährdete lauern hier nach wie vor die grössten Risiken.
Ortstermin bei einem Therapeuten für Spielsucht. Der Patient in der Sprechstunde: Boris (Name geändert).
Seit einem Jahr arbeitet Boris daran, von seiner Abhängigkeit loszukommen. Mit wechselndem Erfolg und periodischen Rückschlägen. Wie kürzlich wieder. Boris hat gespielt – und verloren. Seine lakonische Begründung: «Ich bin derart verschuldet, dass ich eigentlich gar keine andere Hoffnung mehr habe, aus den Schulden rauszukommen.»
Boris’ Weg in die Geld- und Glücksspielsucht führte über anfängliche Gewinne an Lotterieautomaten, im Casino, beim Online-Spiel. Da begann sein Abstieg. Heute, mit 30, hat er nach 15 Jahren Spiel über 250'000 Franken Schulden angehäuft.
Lotto, Poker, Pferdewetten, Sportwetten. Boris hat fast alle Geldspiele ausprobiert, die es auf dem Markt gibt. Seit er ein Smartphone hat, spielt er meist online, vor allem Slotmachines.
An diesen Geldspielautomaten geht es schnell: Man klickt und hat eine Sekunde später das Ergebnis. Und klickt. Und klickt. Und klickt.
Bis kein Rappen mehr übrig ist.
Herumfliegende Goldstücke, grossartige Gewinnversprechen, elektrisierendes Gebimmel: Das bunte Spektakel macht aus mageren Erfolgen fantastische Triumphe und spornt dazu an, über die ungleich häufigeren Pleiten grosszügig hinwegzusehen.
Das Internet macht alles schlimmer
Mit dem Aufkommen von Internet und Smartphone ist die Aufgabe der Suchtmediziner schwieriger geworden. «Spielsucht hat es schon immer gegeben», weiss Psychotherapeut Jean-Marie Coste. «Mit dem Internet haben wir heute aber eine Situation, die es ungleich schwerer macht, davon wegzukommen.»
Das Problem: die fehlende Distanz zum Suchtauslöser. Aus Casinos und Spielhallen kann man sich verbannen lassen. Das Internet aber ist überall und jederzeit verfügbar – zu Hause, unterwegs, 24 Stunden am Tag. Das erhöht die Abhängigkeit zusätzlich und macht es ungleich schwieriger, vom Suchtverhalten loszukommen.
Der Kick des Ungewissen
Internet-Geldspiele sind ein Phänomen, mit dem die spezialisierten Suchtkliniken erst seit wenigen Jahren konfrontiert sind.
Entsprechend wenig weiss man noch über diese Form der Abhängigkeit. Neurowissenschaftler sehen aber klare Parallelen zum Drogenkonsum.
«Alles beginnt mit einer Aktivierung des Belohnungssystems», erklärt Neurologe Christian Lüscher von der Universität Genf. Das tief im Hirn freigesetzte Glückshormon Dopamin löst Freude und Befriedigung aus – und das Verlangen, dieses Gefühl wieder zu erleben. Manche Menschen können davon nicht genug bekommen und setzen sich immer wieder jener Situation aus, die das Glückshormon fliessen lässt.
Das ist nicht etwa das Erfolgserlebnis eines geschafften Gewinns. Vielmehr ist es die Spannung im Moment zwischen Klick und Gewinn oder Verlust, wenn noch alles möglich ist.
Die Unvorhersagbarkeit ist es also, die einem Spiel seinen Suchtcharakter verleiht. Dabei reagieren keineswegs alle Menschen gleich. Was mittlerweile aber belegt ist: Tempo erhöht den Reiz. Je schneller die Abfolge zwischen Entscheid und Ergebnis, desto grösser das Suchtpotenzial.
Die Automatismen der Sucht in den Griff bekommen
Nur fünf bis zehn Prozent der exzessiven Spieler entscheiden sich für eine Therapie. Meist beginnen sie erst nach fünf Jahren, ihr problematisches Verhalten überhaupt als solches wahrzunehmen.
Damit beginnt eine zweite Phase, die in der Regel noch einmal fünf Jahre dauert. Erst dann kommt es zur Krise, und die Probleme nehmen derart katastrophale Ausmasse an, dass die Betroffenen bereit sind, sich helfen zu lassen.
Bei der Behandlung von Spielsucht geht es im Wesentlichen darum, Mechanismen zu erarbeiten, um die Kontrolle über das Spiel zurückzugewinnen. Am Spital Paul Brousse in Paris wird dafür an einer neuartigen Therapie gearbeitet: «Menschen mit einer Sucht weisen ein Defizit ganz bestimmter Gehirnfunktionen auf», erklärt Amandine Luquiens, Leiterin der auf Glücks- und Geldspielsucht spezialisierten Abteilung des Spitals.
Diese Gehirnfunktionen steuern das Anhalten eines automatisierten Gedankens oder einer automatisierten Aktion – etwa die Gewohnheit, nach einem Kaffee zu rauchen.
Eine derart mächtige Gewohnheit zu unterbrechen, ist alles andere als einfach. Aber es ist möglich, Strategien zu erlernen, die dabei wirksam helfen.
In Paris setzt man auf ein computerbasiertes Training, das jene Gehirnzonen fordert, die bei automatisierten Handlungen aktiv sind. Zum Beispiel, indem einem das Wort «Violett» in grüner Farbe angezeigt wird und man per Mausklick nicht auf den Wortsinn, sondern auf die Farbe der Buchstaben reagieren soll. Möglichst schnell und in immer wechselnden Kombinationen.
Eine Art Gehirn-Physiotherapie, die mit praktischen Übungen die Selbstkontrolle übt, um automatische Verbindungen zu überwinden.
Versuchung «Tactilo»
Boris ist in einem klassischen Therapieprogramm. Seit er vor einem Jahr damit begonnen hat, konnte er seine Ausgaben für das Geldspiel um 80 Prozent senken. Und er ist zuversichtlich, seine Abhängigkeit in einem weiteren Jahr überwunden zu haben.
Doch der Weg ist lang und steinig, führt nicht immer nur zum Ziel, sondern manchmal auch zurück. Zum Beispiel an einen der in der Westschweiz enorm populären «Tactilo»-Spielautomaten.
Stets ums Monatsende, vom 23. bis zum 7., setzt der Run auf diese Maschinen ein. Stundenlang herrscht Hochbetrieb. Bis der Lohn, die Rente, die IV verspielt ist. «Und dann lacht man», meint Boris trocken. «Unter uns lachen wir – ich glaube, um nicht zu weinen.»