Brigitte Woggon sorgte in den 1980er- und 90er-Jahren für Schlagzeilen: An der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und in ihrer eigenen Praxis experimentierte sie mit Psychopharmaka – manchmal in atemberaubenden Dosierungen. Menschen aus der ganzen Welt reisten nach Zürich, um sich von ihr behandeln zu lassen. Daran hatten längst nicht alle Berufskollegen Freude.
SRF: Warum war Brigitte Woggon umstritten?
Katharina Bochsler: Sie hat ihren Patientinnen und Patienten Pharmacocktails serviert, also Mischungen aus verschiedenen Medikamenten. Und diese hat sie zum Teil in atemberaubenden Dosen verabreicht – bis zum Siebenfachen der empfohlenen Höchstdosis.
Woggon wurde deshalb von Kolleginnen und Kolleginnen auch «Pharma-Hexe» genannt – und dies durchaus ohne Augenzwinkern. Sie war wirklich nicht überall beliebt. Man bezeichnete ihre Behandlungsmethode auch als «Woggonizing».
Welche Patientinnen fragten denn bei ihr um Hilfe?
Brigitte Woggon hat sogenannte therapieresistente oder austherapierte Patientinnen und Patienten behandelt. Also Menschen, die bisher auf keine Therapie angesprochen haben – oder nicht genügend.
Sie hat Menschen aller Altersstufen behandelt. Das waren vor allem Menschen mit sehr schweren Depressionen und mit Kombinationen verschiedenster Symptome wie Ängste oder Zwänge. Aber auch Menschen mit schwerster chronischer Suizidalität, also Menschen, die sich töten wollten.
Hatte sie Erfolg mit ihrer Behandlung?
Es gelang ihr, Menschen, die wirklich schwerstkrank waren und oft über Jahre wie Zombies durchs Leben gehen mussten, ins Leben zurückzuholen. Sie nannte diese aufgegebenen Patienten auch durchaus liebevoll «Knacknüsschen». Und sie nannte sie auch Co-Autorinnen und -Autoren der Bücher, die sie schrieb.
Diese Patienten waren für sie eine Herausforderung, gerade weil ihnen zuvor niemand helfen konnte. Woggon war auch wirklich stolz auf ihr Können und verteidigte sich gegenüber kritischen Kollegen durchaus wortgewandt.
Einmal hat sie mit ihrer Berliner Schnauze gegenüber einer Kollegin ihre Patienten folgendermassen beschrieben: «Meine Patienten, das sind keine Patienten, die einfach mal traurig sind und deswegen in den Sonnenuntergang schwimmen wollen.»
Wie berechtigt war denn die heftige Kritik aus den Reihen der Ärzteschaft?
Natürlich hatten viele Patienten auch relativ starke Nebenwirkungen. Das ist klar, wenn man mit su hohen Medikamentendosen arbeitet. Woggon selbst hat diese Nebenwirkungen nie verschwiegen.
Sie beschreibt zum Beispiel in einem Ihrer Bücher den Fall eines Patienten der schwerst depressiv war und dem es nach der Behandlung deutlich besser ging. Er hatte wieder Lust und Freude, ein Bier zu trinken – was sehr viel ist.
Aber sie schreibt eben auch: «Er fiel dann immer wieder mal hin». Er hatte also Probleme mit dem Gleichgewichtssystem. Brigitte Woggon hat eine Kosten-Nutzen-Rechnung mit ihren Patientinnen und Patienten gemacht. Sie wurden ja nicht zwangsmediziert, sondern kamen freiwillig zu ihr.
Ausserdem hat Woggon sehr genau beobachtet. Sie hat nicht einfach mit der Pharmakeule zugeschlagen, sondern sehr fein dosiert und danach gesehen, das kleinste Dosisänderungen nach unten und oben eben oft schon eine grosse Wirkung hatten.
Gab es denn Ärztinnen und Ärzte die ihrem Beispiel gefolgt sind?
Woggon war nicht der «Lonely Wolf». Es gibt Psychiaterinnen und Psychiater, die ihrem Beispiel folgen. Aber es sind nicht viele. Ich denke, das ist gut so, denn man braucht wirklich ein Talent und muss wissen, was man verschreibt. Zudem muss man die Geduld haben, hinzuschauen und genau zu beobachten. Und man braucht Mut. Oder wie Brigitte Woggon es sagte: Man muss auch mal um die Ecke denken können.
Das Gespräch führte Oliver Meier.