Da steht er hinter Glas, Aug’ in Aug’ mit der Betrachterin. Sein Blick fiebrig und voller Sehnsucht, die vollen Lippen leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen. Lange, braune Haare umrahmen die feinen Gesichtszüge, am Kinn fällt ein Grübchen auf.
«So dürfte dieser junge Mann ausgesehen haben», sagt Mirjam Wullschleger von der Kantonsarchäologie Solothurn – dieser junge Mann, der vor rund 1300 Jahren in Grenchen gestorben und auf dem Gräberfeld der Stadt begraben worden ist.
Die Solothurner Archäologen haben ihm den Namen Adelasius Ebalchus gegeben. Das sei zwar reine Fantasie, sagt Mirjam Wullschleger, aber nicht falsch: «Adelasius war im Frühmittelalter ein gebräuchlicher Name, und Ebalchus ist ein Tribut an die Uhrenstadt Grenchen.» Im Französischen wird das Rohwerk einer Uhr als «ébauche» bezeichnet.
Adelasius war krank
Adelasius' Skelett wurde vor fünf Jahren mitten in Grenchen geborgen, zusammen mit 60 weiteren zuvor unentdeckten Skeletten des frühmittelalterlichen Gräberfelds. Adelasius, so viel verraten seine sterblichen Überreste, war 173 Zentimeter gross und wurde nur etwa 20 Jahre alt. Es ging ihm nicht gut.
Das Ausgrabungs-Team um Mirjam Wullschleger stellte an den Knochen krankhafte Veränderungen fest. Er litt wahrscheinlich an einer chronischen Infektionskrankheit. «Wir wissen nicht, ob das die Todesursache war, aber sicher ist, dass Adelasius nicht gesund war», so die Archäologin.
Vom Künstler rekonstruiert
Beigesetzt wurde der Jüngling in einem gemauerten Grab, das mit mächtigen Steinplatten bedeckt war. Ein aufwändiges Grab – Adelasius stammte wohl aus einer gutsituierten Familie. Die Knochen und der Schädel des jungen Mannes waren aussergewöhnlich gut erhalten. So gut, dass die Solothurner Kantonsarchäologie beschloss, sein Gesicht rekonstruieren zu lassen, und zwar vom schwedischen Künstler und Archäologen Oscar Nilsson.
Dieser ist von Adelasius' Knochen begeistert: Das Skelett sei fantastisch, vor allem die Zähne. Nilsson erzählt, er habe schon viele Gesichter rekonstruiert – Wikinger, Steinzeitmenschen, seine älteste Arbeit ist eine Neandertalerin, 45'000 Jahre alt. «Aber noch nie habe ich einen Schädel bearbeitet mit so einem perfekten Gebiss.»
Der Realität nah
Er möge nicht jedes Gesicht, das er rekonstruiere, sagt Oscar Nilsson. Adelasius aber mit seinen schönen Zügen sei etwas Besonderes. «Der Betrachter weiss zwar rational, dass das Gesicht nicht echt ist», so Oscar Nilsson. Doch gefühlsmässig wirke es wie von einer realen Person, und man stelle eine Verbindung mit dieser Person und ihrer Geschichte her.
Mirjam Wullschleger bestätigt dies: Nilsson habe den alten Knochen Leben eingehaucht. «Man spürt beim Anblick von Adelasius’ Büste unmittelbar, dass hier ein Mensch und dessen Schicksal dahinterstecken. Das hat eine grosse Kraft.» Die Vergangenheit rücke so ein grosses Stück näher.
Und so berührt das Schicksal von Adelasius Ebalchus 1300 Jahre nach dessen Tod.