Sechs Stunden Sport am Tag. Sieben Tage die Woche. Ohne Pause. Ein Tag ohne hohes Sportpensum war für die 29-jährige Marcia Hapig kein guter Tag. «Sport hat so viel Positives», begründet die passionierte Rennradfahrerin. «Egal ob Probleme mit Freunden oder im Job: Ich schwinge mich einfach aufs Bike und fahre los.» Es ist diese Selbstbestimmtheit, die ihr unglaublich viel gibt. «Beim Sport fühle ich mich frei und super happy.»
Doch das Gefühl der Selbstbestimmtheit ist nur ein vermeintliches. Immer häufiger sagt sie Treffen mit Freundinnen ab. Der Sport ist ihr wichtiger. Beim Besuch der Eltern verspürt sie vorher den Drang, noch eine Runde joggen gehen zu müssen. Marcia Hapig trainiert selbst dann, wenn sie krank ist oder die Muskeln, Bänder oder Gelenke schmerzen.
Wenn Sport zu Sucht wird
Langsam kommen bei ihr Zweifel auf. «Als ich realisiert habe, dass es einfach nicht ohne geht, war das wirklich beängstigend», erzählt sie. «Immer öfters habe ich mir gesagt, Marcia, es kann doch nicht sein, dass du den Sport über alle sozialen Beziehungen stellst.»
Mehrere Jahre kämpft Marcia Hapig mit ihrer Sportbesessenheit. Und scheitert immer wieder beim Versuch, das Sportpensum zu reduzieren. Selbst das Versprechen, bei Krankheit oder Verletzung nicht zu trainieren, kann sie gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen nicht einhalten.
Sie meldet sich auf einen Aufruf zu einer Studie über Sportsucht. Den Hinweis zur Studie hat sie aus ihrem nahen Umfeld bekommen. Erschrocken stellt sie fest: Die meisten Kriterien für die Teilnahme an der Studie treffen auf sie zu. «Der Auslöser dann teilzunehmen, war vor allem meine Sorge darüber, dass ich meinem Körper langfristig einen Schaden zufügen könnte», begründet Marcia Hapig diesen Schritt. Aber auch für die Psyche erhofft sie sich eine Veränderung: «Zu merken, dass ich auch ohne Sport ein wertvoller Mensch bin und glücklich sein kann.»
Es ist ein Missverständnis zu glauben, das hohe Sportpensum alleine mache einen zur Sportsüchtigen.
Aufgerufen zur Studie hat Flora Colledge. Sie ist Dozentin für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Luzern. Die 35-jährige Wissenschaftlerin ist auch Extrem-Triathletin und nimmt an internationalen Wettkämpfen teil. Dafür trainiert sie phasenweise bis zu 30 Stunden pro Woche. Die Frage, ob sie damit nicht auch sportsüchtig sei, beantwortet sie nicht zum ersten Mal: «Es ist ein Missverständnis zu glauben, das hohe Sportpensum alleine mache einen zur Sportsüchtigen», beginnt sie ihre Begründung.
Dann wären nämlich alle Profisportlerinnen und Profisportler süchtig. Und dies sei natürlich nicht der Fall. Wer aber den Sport zum Hauptinhalt seines Lebens macht, Beruf, Familie und Freunde vernachlässigt und auch bei Krankheit oder Verletzung trainiert, zeige typische Anzeichen einer Sportsucht.
«Bei jemandem, der sehr eingebunden ist im Beruf oder der Familie, können bereits sechs bis sieben Stunden pro Woche zu viel sein und zu Problemen führen», erklärt Flora Colledge. Sie selbst arbeitet 60 Prozent, der Rest gehört dem Sport. Typisch für Menschen mit einer Sportsucht sei auch, dass sie trotz grossem Trainingspensum auf kein bestimmtes Ziel hintrainieren. Den Sport also nur des Sportes wegen betreiben und nicht, um sich zum Beispiel auf einen Marathonlauf vorzubereiten.
Sportsucht als eigenständige Diagnose
300 Sportbegeisterte haben sich auf den Studien-Aufruf von Flora Colledge und ihrem Team gemeldet. Bei zehn Prozent konnten die Studienautorinnen und Studienautoren mehrere Anzeichen einer Sportsucht finden. Die Diagnose «Sportsucht» gibt es noch nicht im ICD-11-Katalog – sie wird von der Weltgesundheitsorganisation also nicht als offizielle Krankheit anerkannt. Für Flora Colledge ist aber klar: «Sportsucht ist eine eigenständige psychische Verhaltensstörung.»
Seit fünf Jahren sucht sie Belege dafür und kämpft für die Anerkennung der Diagnose. Damit könnten wiederum entsprechende Therapieangebote geschaffen werden. Sportsucht kommt wie Heroin-Sucht bei weniger als einem Prozent der Bevölkerung vor. Anders als bei einer Drogen-Sucht sei die «Null-Toleranz», also ein kompletter Trainingsverzicht, bei einer Sportsucht natürlich nicht sinnvoll. In erster Linie geht es um die Reduktion des Sportpensums auf ein vernünftiges, mit dem Alltag verträgliches Mass.
Sportsucht ist häufig eine Begleiterscheinung
Bei der Auswertung der Daten ihrer Studie haben sie zwei Dinge überrascht. Bei der Hälfte der Sportsüchtigen wurde eine Depression festgestellt. Dieses Phänomen kennt die Medizin bereits im Zusammenhang mit anderen Suchterkrankungen wie etwa Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht. Die Sucht als Folge einer bereits vorhandenen psychischen Erkrankung.
«Sport könnte ein Versuch sein, sich selbst zu therapieren», präzisiert Flora Colledge, «wir alle kennen die guten Gefühle, die entstehen, wenn wir Sport machen und das gesetzte, sportliche Ziel erreichen». Diese positiven Gefühle würden die negativen Gedanken bei einer Depression oder Angststörung teilweise oder ganz überlagern. Wie bei allen Süchten muss die oder der Betroffene aber laufend die Dosis steigern, um die Glücksgefühle immer wieder zu erleben. Ein Teufelskreis.
Überrascht hat die Wissenschafterin auch, dass Sportsucht nicht in jedem Fall mit einer Essstörung einhergehen muss, wie bisher stark vermutet. Bei nur vier Teilnehmenden ihrer Studie war dies der Fall. Bei Marcia Hapig war eine Essstörung zumindest Auslöser für die Sportsucht. «Ich habe extrem viel Sport gemacht, um möglichst jede Kalorie, die ich aufgenommen habe, wieder loszuwerden», sagt die passionierte Rennradfahrerin. Die Essstörung konnte sie irgendwann überwinden, das hohe Sportpensum ist geblieben und der Sport immer mehr zum Hauptbestandteil ihres Lebens geworden.
Marcia Hapig hat durch die Teilnahme an der Studie aus dem Teufelskreis herausgefunden. In den letzten zwei Jahren hat sie ihr Sportpensum um etwa mehr als die Hälfte reduziert. «Das hat mir geholfen, neue Hobbys zu finden, im Chor zu singen und zu merken, dass es auch andere Dinge gibt, als nur super aktiv zu sein.» Die Frage, ob sie sich als geheilt bezeichnen würde, löst bei ihr ein Lachen aus. Dann reflektiert sie: «Da ich nun einen Tag ohne Sport schaffe, würde ich sagen, so kann es weiter gehen.»